Das vierte Kapitel
Anfangs waren da nur das pulsierende, unstete Chaos und eine Kaskade von Bildern, ein Wirbeln, ein Abgrund voller Töne und Stimmen. Ciri sah einen in den Himmel ragenden Turm, auf dessen Dach Blitze tanzten. Sie hörte den Schrei eines Raubvogels und war dieser Raubvogel. Sie flog mit gewaltiger Geschwindigkeit, und unter ihr lag ein aufgewühltes Meer. Sie sah eine kleine Puppe aus Stoffresten und war plötzlich diese Puppe, und ringsum ballte sich Dunkelheit, die von den Stimmen der Zikaden vibrierte. Sie sah einen großen schwarz-weißen Kater und war auf einmal dieser Kater, und ringsum lag ein finsteres Haus, dunkel gewordene Täfelung, der Geruch von Kerzen und alten Büchern. Sie hörte, wie jemand mehrmals ihren Namen aussprach, sie herbeirief. Sie sah silberne Lachse in Wasserfällen springen, hörte das Rauschen des Regens, der auf das Laub traf. Und dann hörte sie einen seltsamen, langgezogenen Schrei Yennefers. Und es war dieser Schrei, der sie erwachen ließ, sie aus dem Abgrund von Zeit- und Formlosigkeit riss.
Jetzt, da sie erfolglos versuchte, sich an den Traum zu erinnern, hörte sie nur noch die leisen Klänge einer Laute und einer Flöte, das Klingeln eines Tamburins, Gesang und Lachen. Rittersporn und eine Gruppe zufällig zusammengekommener Vaganten amüsierten sich noch immer aufs beste in dem Zimmer am Ende des Korridors.
Durchs Fenster fiel ein Streifen Mondlicht herein, der die Finsternis ein wenig aufhellte und das Zimmer in Loxia wie den Ort in ihrem Traum aussehen ließ. Ciri warf das Deckbett zurück. Sie war verschwitzt, die Haare klebten ihr an der Stirn. Am Abend hatte sie lange nicht einschlafen können, es fehlte ihr an Luft, obwohl das Fenster weit offenstand. Sie kannte den Grund. Ehe sie mit Geralt hinausgegangen war, hatte Yennefer das Zimmer mit Schutzzaubern belegt. Angeblich, damit niemand hineingelangen konnte, doch Ciri argwöhnte, dass es eher darum ging, niemanden hinauszulassen. Sie war einfach eingesperrt. So sichtlich Yennefer froh war, Geralt begegnet zu sein, hatte sie doch die eigenmächtige und irrsinnige Flucht nach Hirundum, die zu dieser Begegnung geführt hatte, weder vergessen noch verziehen.
Sie selbst hatte die Begegnung mit Geralt traurig gemacht und enttäuscht. Der Hexer war wortkarg, angespannt, unruhig und offensichtlich unaufrichtig. Ihre Gespräche rissen ab und versickerten, blieben in unvollendeten, mitten im Wort abgebrochenen Sätzen und Fragen stecken. Die Blicke und die Gedanken des Hexers flohen vor ihr und schweiften in die Ferne. Ciri wusste, wohin sie schweiften.
Aus dem Zimmer am Ende des Korridors drang der einsame und leise Gesang Rittersporns heran, die Musik von Lautensaiten, die plätscherte wie ein Wasserlauf über Steine. Sie erkannte die Melodie, an der der Barde seit ein paar Tagen komponierte. Die Ballade trug – wie Rittersporn sich mehrfach gebrüstet hatte – den Titel »Die Unfassliche« und sollte dem Dichter auf dem diesjährigen Bardenturnier zum Sieg verhelfen, das im Spätherbst auf dem Schloss Vartburg stattfand. Ciri lauschte den Worten.
Magst im Flug durch die Regennacht schweifen,
Zwischen gelblichen Seerosen tauchen,
Doch ich werde dich trotzdem begreifen,
Etwas Glück freilich werde ich brauchen ...
Hufe trommelten, Reiter galoppierten in die Nacht, zum Horizont hin erblühte der Himmel im Widerschein von Bränden. Ein Raubvogel schrie und breitete die Flügel aus, flog auf. Ciri war wieder im Traum versunken und hörte dabei, wie jemand mehrfach ihren Namen aussprach. Einmal war es Geralt, einmal Yennefer, einmal Triss Merigold, schließlich – und das mehrere Male – eine ihr unbekannte schmächtige, hellhaarige und traurige junge Frau, die von einer in Horn und Messing gefassten Miniatur herabsah.
Dann wurde sie den schwarz-weißen Kater gewahr, und einen Moment später war sie dieser Kater, blickte mit seinen Augen. Sie sah große Regale voller Bücher, ein von mehreren Kerzenständern erhelltes Pult, daran zwei über Pergamentbündel gebeugte Männer. Einer von den Männern hustete und wischte sich den Mund mit einem Tuch ab. Der andere, kleinwüchsig und mit riesigem Kopf, saß in einem Sessel mit Rädern. Ihm fehlten beide Beine.
»Unerhört ...«, seufzte Fenn, während er den Blick über das brüchige Pergament schweifen ließ. »Unglaublich ... Woher hast du diese Dokumente?«
»Du würdest es nicht glauben, wenn ich es dir sagen würde.« Codringher begann zu husten. »Hast du nunmehr verstanden, wer Cirilla, die Fürstentochter von Cintra, in Wahrheit ist? Die Kinder des Älteren Blutes ... Der letzte Spross an jenem verdammten Baum des Hasses! Der letzte Zweig, und daran der letzte vergiftete Apfel ...«
»Das Ältere Blut ... So weit zurück ... Pavetta, Calanthe, Adalia, Elen, Fiona ...«
»Und Falka.«
»Bei den Göttern, das ist unmöglich! Erstens hatte Falka keine Kinder! Zweitens war Fiona die rechtmäßige Tochter von ...«
»Erstens wissen wir nichts über die Jugend Falkas. Zweitens verstehst du mich nicht, Fenn. Du weißt doch, dass ich, wenn ich das Wort ›rechtmäßig‹ höre, Lachkrämpfe kriege. Ich glaube diesem Dokument, denn ich halte es für echt und wahrheitsgemäß. Fiona, die Urururgroßmutter Pavettas, war die Tochter von Falka, jenem Ungeheuer in Menschengestalt. Zum Teufel, ich glaube nicht an all diese irrsinnigen Weissagungen, Prophezeiungen und derlei Unsinn, doch wenn ich mir jetzt die Weissagung Itlinas ins Gedächtnis rufe ...«
»Das geschändete Blut?«
»Geschändet, vergiftet, verflucht, das kann man unterschiedlich verstehen. Aber der Legende nach, wenn du dich entsinnst, war es Falka, die verflucht wurde, denn Lara Dorren aep Shiadhal belegte Falkas Mutter mit einem Fluch ...«
»Das sind Märchen, Codringher.«
»Du hast recht, es sind Märchen. Aber weißt du, wann Märchen aufhören, Märchen zu sein? In dem Augenblick, da jemand anfängt, an sie zu glauben. Und an das Märchen vom Älteren Blute glaubt jemand. Insbesondere an das Fragment, in dem davon die Rede ist, dass aus dem Blute Falkas der Rächer geboren wird, der die alte Welt vernichtet und auf ihren Trümmern eine neue erbaut.«
»Und dieser Rächer soll Cirilla sein?«
»Nein. Nicht Cirilla. Ihr Sohn.«
»Und Cirilla wird gesucht von ...«
»Emhyr var Emreis, dem Kaiser von Nilfgaard«, beendete Codringher mit kalter Stimme den Satz. »Verstehst du jetzt? Cirilla soll, ob sie will oder nicht, die Mutter des Thronfolgers werden. Des Erzfürsten, der zum Erzfürsten der Finsternis werden soll, zum Nachkommen und Rächer jener Teuflin Falka. Die Vernichtung und der anschließende Wiederaufbau der Welt sollen, wie mir scheint, auf geregelte und kontrollierte Weise erfolgen.«
Der Krüppel schwieg lange.
»Findest du nicht«, fragte er schließlich, »dass wir Geralt davon in Kenntnis setzen sollten?«
»Geralt?« Codringher vorzog den Mund. »Wer ist denn das? Nicht zufällig dieser Naivling, der mir unlängst eingeredet hat, dass er nicht um des Vorteils willen handelt? Oh, ich glaube, dass er nicht für den eigenen Vorteil handelt. Er handelt für fremden. Übrigens ohne es zu wissen. Er verfolgt Rience, der an der Leine agiert, und bemerkt das Halsband am eigenen Halse nicht. Ihn sollte ich informieren? Denen helfen, die sich selber dieses goldene Eier legenden Huhns bemächtigen wollen, um Emhyr zu erpressen oder sich bei ihm einzuschmeicheln? Nein, Fenn. So dumm bin ich nun wieder nicht.«
»Der Hexer agiert an der Leine? An wessen?«
»Überleg.«
»Verdammt!«
»Ein exakt gewähltes Wort. Die einzige Person, die Einfluss auf ihn hat. Der er vertraut. Aber ich traue ihr nicht. Und habe ihr niemals getraut. Ich werde mich selbst in dieses Spiel einschalten.«
»Das ist ein gefährliches Spiel, Codringher.«
»Ungefährliche Spiele gibt es nicht. Es gibt nur Spiele, die den Einsatz lohnen oder aber nicht. Fenn, Bruder, verstehst du nicht, was uns in die Hände gefallen ist? Ein goldenes Huhn, das für uns und für niemand anders riesige Eier legen wird, ganz aus dem goldigsten Golde ...«
Codringher begann heftig zu husten. Als er das Tuch vom Mund nahm, waren Blutspuren darin.
»Gold wird das nicht heilen«, sagte Fenn mit einem Blick auf die Hand seines Teilhabers. »Und mir keine Beine verschaffen ...«
»Wer weiß?«
Jemand klopfte an die Tür. Fenn ruckte unruhig in dem Sessel mit Rädern herum. »Erwartest du jemanden, Codringher?«
»Gewiss. Die Leute, die ich nach Thanedd geschickt habe. Wegen des goldenen Huhns.«
Öffne nicht, schrie Ciri. Öffne diese Tür nicht! Dahinter ist der Tod! Öffne diese Tür nicht!
»Ich mach ja schon auf«, rief Codringher, während er die Riegel zurückschob, worauf er sich zu dem miauenden Kater umwandte. »Bist du wohl still, du Galgenstrick ...«
Er verstummte. In der Tür standen nicht die, die er erwartet hatte. In der Tür standen drei Individuen, die er nicht kannte.
»Herr Codringher?«
»Der Herr Konsultant ist in Geschäften unterwegs.« Der Advokat machte ein etwas dümmliches Gesicht und gab seiner Stimme einen leicht schrillen Klang. »Ich bin der Kammerdiener des Herrn Konsultanten, mein Name ist Glomb, Mikael Glomb. Womit kann ich den Herren zu Diensten sein?«
»Mit nichts«, sagte eins von den Individuen, ein hochgewachsener Halbelf. »Wenn der Herr Konsultant nicht da ist, lassen wir nur einen Brief und eine Nachricht hier. Da ist der Brief.«
»Ich werde ihn getreulich übergeben.« Codringher fühlte sich gut in die Rolle des begriffsstutzigen Lakaien ein, verbeugte sich untertänig, streckte die Hand nach dem zusammengerollten Pergament aus, um das eine rote Schnur gewickelt war. »Und die Nachricht?«
Die Schnur um das Pergament wickelte sich ab wie eine angreifende Schlange, schoss vor und umschlang ihm fest das Handgelenk. Der Hochgewachsene ruckte heftig daran. Codringher verlor das Gleichgewicht, stürzte nach vorn, streckte, um nicht auf den Halbelf zu prallen, instinktiv die linke Hand gegen dessen Brust. In dieser Haltung war er außerstande, dem Stilett auszuweichen, das ihm in den Bauch gerammt wurde. Er schrie dumpf auf und drängte zurück, doch die ums Handgelenk gewickelte magische Schnur hielt ihn fest. Der Halbelf zog ihn abermals auf sich zu und versetzte ihm einen weiteren Stich. Diesmal blieb Codringher auf der Klinge hängen.
»Das sind die Nachricht und die Grüße von Rience«, zischte der hochgewachsene Halbelf, während er das Stilett heftig nach oben riss und den Advokaten aufschlitzte wie einen Fisch. »Fahr zur Hölle, Codringher. Geradewegs zur Hölle.«
Codringher begann zu röcheln. Er fühlte, wie die Dolchklinge an Rippen und Brustbein knirschte. Er stürzte zu Boden, krümmte sich zusammen. Er wollte schreien, um Fenn zu warnen, doch es kam nur ein Krächzen heraus, und das Krächzen erstickte sogleich in einer Woge von Blut.
Der hochgewachsene Halbelf trat über den Körper hinweg; nach ihm gingen die beiden anderen in die Wohnung. Diese beiden waren Menschen.
Fenn ließ sich nicht überrumpeln.
Eine Sehne surrte, einer der beiden Häscher stürzte zu Boden, von einer Stahlkugel mitten auf die Stirn getroffen. Fenn fuhr mit dem Sessel vom Pult weg und versuchte vergeblich, mit zitternden Händen die Armbrust neu zu spannen.
Der Hochgewachsene sprang auf ihn zu, stieß mit einem kräftigen Fußtritt den Sessel um. Der Krüppel wurde auf die am Boden liegenden Papiere geschleudert. Wie er hilflos mit den Ärmchen und den Beinstummeln zappelte, erinnerte er an eine verkrüppelte Spinne.
Der Halbelf gab der Armbrust einen Fußtritt, dass sie aus Fenns Reichweite flog. Ohne den Krüppel zu beachten, der zu kriechen versuchte, sah er rasch die auf dem Pult liegenden Papiere durch. Seine Aufmerksamkeit wurde von einer kleinen, in Horn und Messing gefassten Miniatur angezogen, die eine hellhaarige junge Frau darstellte. Er nahm sie zusammen mit dem daran befestigten Zettel an sich.
Der zweite Häscher verließ den von der Armbrustkugel Getroffenen, kam näher. Der Halbelf hob fragend die Brauen. Der Häscher schüttelte den Kopf.
Der Halbelf steckte die Miniatur und etliche vom Pult genommene Dokumente in die Jacke. Dann nahm er ein Büschel Schreibfedern aus dem Becher und zündete sie an einer Kerze an. Er drehte sie langsam, damit der Wisch richtig brannte, worauf er sie aufs Pult warf, auf die Pergamentbündel, die sofort Feuer fingen.
Fenn schrie auf.
Der hochgewachsene Halbelf nahm von dem schon brennenden Tisch eine Flasche mit einer Flüssigkeit zum Entfernen von Tinte, trat zu dem sich windenden Krüppel und goss den ganzen Inhalt über ihn aus. Fenn heulte durchdringend auf. Der zweite Häscher nahm aus einem Regal einen Armvoll Pergamentpacken und warf sie auf den Krüppel.
Das Feuer vom Pult loderte schon bis zur Decke hoch. Eine zweite, kleinere Flasche mit Tintenentferner explodierte mit dumpfem Knall, die Flammen leckten an den Regalen. Fenn heulte. Der Hochgewachsene trat von dem brennenden Pult weg, rollte aus Papier einen zweiten Fidibus zusammen und entzündete ihn. Der zweite Häscher warf noch eine Ladung Papiere auf den Krüppel.
Fenn heulte.
Der Halbelf trat zu ihm hin, den brennenden Fidibus in der Hand.
Codringhers schwarz-weißer Kater setzte sich auf ein Mäuerchen in der Nähe des Hauses. Auf seinen gelben Augen spielte der Widerschein des Feuers, das die freundliche Nacht in eine schreckliche Parodie des Tages verwandelt hatte. Die Gegend hallte von Geschrei wider. Es brennt! Es brennt! Wasser! Leute rannten auf das Haus zu. Der Kater erstarrte, betrachtete sie voller Verwunderung und Verachtung. Diese Dummköpfe wollten offensichtlich dorthin, zu dem Feuerschlund, dem er gerade mit Mühe entkommen war.
Codringhers Kater wandte sich gleichgültig ab und widmete sich wieder dem Ablecken seiner in Blut getauchten Pfote.
Ciri erwachte schweißgebadet, ihre Hände waren so um die Bettdecke gekrallt, dass es wehtat. Ringsum waren Stille und eine weiche Finsternis, von einem Streifen Mondlicht durchschnitten wie von einem Stilett.
Brand. Feuer. Blut. Ein Albtraum ... Ich erinnere mich nicht, an nichts erinnere ich mich.
Tief atmete sie die scharfe Nachtluft ein. Das Gefühl von Schwüle war verschwunden. Sie wusste warum.
Die Schutzzauber wirkten nicht.
Etwas ist geschehen, dachte Ciri. Sie sprang aus dem Bett und zog sich rasch an. Sie gürtete den kleinen Dolch um. Das Schwert war nicht da, Yennefer hatte es ihr weggenommen und Rittersporn in Verwahrung gegeben. Der Dichter schlief sicherlich schon, in Loxia herrschte Stille. Ciri überlegte, ob sie nicht gehen und ihn wecken sollte, als sie plötzlich ein heftiges Pulsieren in den Ohren verspürte und das Blut rauschen hörte.
Der durchs Fenster hereinfallende Streifen Mondlicht war zu einem Weg geworden. Am Ende des Weges, sehr weit entfernt, lag eine Tür. Die Tür öffnete sich, und Yennefer stand darin.
Komm.
Hinter dem Rücken der Zauberin öffneten sich weitere Türen. Eine nach der anderen. Unendlich viele. In der Dunkelheit zeichneten sich undeutlich die schwarzen Formen von Säulen ab. Vielleicht auch von Statuen. Ich träume, dachte Ciri, ohne es selbst zu glauben. Ich träume. Das ist gar kein Weg, das ist Licht, ein Lichtstreifen. Darauf kann man nicht gehen ...
Komm.
Sie gehorchte.
Ohne die dummen Skrupel des Hexers, ohne seine lebensfremden Prinzipien hätten viele der folgenden Ereignisse ganz anders verlaufen können. Vieles hätte sich wahrscheinlich überhaupt nicht ereignet. Und dann hätte die Weltgeschichte eine andere Richtung eingeschlagen.
Doch die Weltgeschichte verlief so, wie sie verlaufen ist – und das ausschließlich aus dem Grunde, dass der Hexer Skrupel hatte. Als er gegen Morgen erwachte und ein Bedürfnis verspürte, tat er nicht, was jeder getan hätte – er ging nicht auf den Balkon, um in den Blumenkübel mit der Kapuzinerkresse zu pinkeln. Er hatte Skrupel. Er zog sich leise an, ohne Yennefer zu wecken, die tief, reglos und fast ohne zu atmen schlief. Er trat aus dem Zimmer und ging in den Garten.
Das Bankett dauerte an, aber, wie die herandringenden Geräusche verrieten, nur noch ein letzter Rest. Die Fenster des Ballsaales verströmten immer noch Licht, das ins Atrium und auf die Pfingstrosenbeete fiel. Also ging der Hexer noch ein Stück weiter, in immer dichteres Gebüsch, und schaute dort zum heller werdenden Himmel, wo der Horizont schon in Morgenröte getaucht war.
Als er langsam zurückging und über wichtige Dinge nachdachte, begann sein Hexermedaillon heftig zu rucken. Er hielt es mit der Hand fest und spürte, wie die Vibration durch den ganzen Körper lief. Kein Zweifel – jemand in Aretusa wirkte Zaubersprüche. Geralt spitzte die Ohren und vernahm gedämpfte Schreie, Rumoren und Poltern aus dem Säulengang im linken Flügel des Palastes.
Jeder andere hätte ohne zu zögern kehrtgemacht, wäre raschen Schrittes seiner Wege gegangen und hätte so getan, als habe er nichts gehört. Und auch dann wäre die Weltgeschichte vielleicht anders verlaufen. Doch der Hexer hatte Skrupel und pflegte nach unangebrachten, weltfremden Prinzipien zu handeln.
Als er in den Säulengang und den Korridor kam, war dort ein Kampf im Gange. Etliche Häscher in grauen Jacken setzten einen zu Boden geworfenen, nicht besonders großen Zauberer außer Gefecht. Und zwar unter der Anleitung Dijkstras, des Geheimdienstchefs Wisimirs, des Königs von Redanien. Ehe Geralt irgendetwas unternehmen konnte, wurde er selbst außer Gefecht gesetzt – zwei andere graue Häscher drückten ihn an die Wand, und ein dritter setzte ihm die dreizackige Klinge einer Partisane auf die Brust.
Alle Häscher trugen Ringkragen mit dem redanischen Adler.
»Das nennt man ›in die Scheiße treten‹«, erklärte Dijkstra leise, während er näher kam. »Und du, Hexer, hast anscheinend ein angeborenes Talent zu solchen Tritten. Bleib ruhig stehen und versuche, niemandes Aufmerksamkeit zu erregen.«
Die Redanier hatten den Zauberer endlich außer Gefecht gesetzt und hoben ihn auf, wobei sie ihm die Hände festhielten. Es war Artaud Terranova, Mitglied des Kapitels.
Das Licht, das es erlaubte, Einzelheiten zu sehen, drang aus einer Kugel, die über dem Kopf von Keira Metz hing, der Zauberin, mit der Geralt am Abend auf dem Bankett geplaudert hatte. Er erkannte sie kaum – sie hatte den wehenden Tüll gegen strenge Männerkleidung vertauscht, und an der Seite trug sie ein Stilett.
»Fesselt ihn«, befahl sie knapp. In ihrer Hand klirrten Handschellen, die aus einem blauen Metall gefertigt waren.
»Wage es nicht, mir das anzulegen!«, brüllte Terranova. »Wage es ja nicht, Metz! Ich bin Mitglied des Kapitels!«
»Warst du. Jetzt bist du ein gewöhnlicher Verräter. Und man wird dich wie einen Verräter behandeln.«
»Und du bist eine widerliche Schlampe, die ...«
Keira trat einen Schritt zurück, wiegte sich leicht in den Hüften und rammte ihm mit ganzer Kraft die Faust ins Gesicht. Der Kopf des Zauberers wurde derart nach hinten geschleudert, dass Geralt einen Augenblick lang den Eindruck hatte, er werde vom Körper abreißen. Terranova erschlaffte in den Armen der ihn festhaltenden Leute, aus Nase und Mund rann ihm Blut. Die Zauberin schlug kein zweites Mal zu, obwohl sie ausgeholt hatte. Der Hexer erkannte das blitzende Messing des Schlagrings an ihren Fingern. Er wunderte sich nicht. Keira war von kleiner Statur, so einen Schlag hätte sie nicht mit bloßer Faust versetzen können.
Er machte keine Bewegung. Die Häscher hielten ihn mit eisernem Griff fest, und der Dorn der Partisane drückte ihm gegen die Brust. Geralt war sich nicht sicher, ob er sich bewegt hätte, wäre er frei gewesen. Ob er gewusst hätte, was er tun sollte.
Die Redanier hatten dem Zauberer die Arme auf den Rücken gebogen und ließen die Handschellen zuschnappen. Terranova schrie auf, begann zu zappeln, wand sich, ein Brechreiz ließ ihn röcheln. Geralt wusste schon, woraus die Handschellen bestanden. Es war eine Legierung von Eisen und Dwimerit, einem seltenen Mineral, das die Eigenschaft hatte, magische Fähigkeiten zu unterdrücken. Diese Unterdrückung ging für die Magier mit recht betrüblichen Nebenwirkungen einher.
Keira Metz hob den Kopf, strich sich die Haare aus der Stirn. Und da bemerkte sie ihn.
»Was macht der hier, verdammt noch mal? Wie kommt er hierher?«
»Er ist hereingetreten«, antwortete Dijkstra gleichmütig. »Er hat ein Talent, hereinzutreten. Was soll ich mit ihm machen?«
»Bewache ihn. Ich habe jetzt keine Zeit.«
Sie ging schnellen Schrittes davon; ihr folgten die Redanier, die Terranova mitschleppten. Die leuchtende Kugel schwebte der Zauberin nach, doch der Morgen graute schon, es wurde rasch heller. Auf ein Zeichen Dijkstras hin ließen die Häscher Geralt los. Der Spion kam näher und schaute dem Hexer in die Augen.
»Bewahre unbedingte Ruhe.«
»Was geht hier vor? Was hat ...«
»Und unbedingtes Schweigen.«
Keira Metz kehrte bald zurück, nicht allein. Mit ihr kam der aschblonde Zauberer, der Geralt am Abend zuvor als Detmold von Ban Ard vorgestellt worden war. Beim Anblick des Hexers begann er zu fluchen und hieb sich mit der Faust in die Handfläche. »Verdammt! Ist das der, den sich Yennefer ausgesucht hat?«
»Ebender«, bestätigte Keira. »Geralt von Riva. Das Problem besteht darin, dass ich nicht weiß, wie es sich mit Yennefer verhält ...«
»Ich weiß das auch nicht«, sagte Detmold achselzuckend. »Jedenfalls steckt er schon mit drin. Er hat zu viel gesehen. Bringt ihn zu Philippa, sie wird entscheiden. Fesselt ihn.«
»Das ist nicht notwendig«, sagte Dijkstra scheinbar lässig. »Ich übernehme die Verantwortung für ihn. Ich bringe ihn dahin, wo er hingehört.«
Detmold nickte. »Das trifft sich bestens. Denn wir haben keine Zeit. Komm, Keira, dort oben wird es kompliziert ...«
»So was von nervös«, murmelte der redanische Spion, während er den Davongehenden nachblickte. »Keine Übung, das ist es. Aber Staatsstreiche und Putsche sind wie Mangold-Kaltschale. Kalt zu genießen. Gehen wir, Geralt. Und denk dran: ruhig, anständig, ohne Eskapaden. Lass mich nicht bereuen, dass ich dich nicht habe fesseln lassen.«
»Was geht hier vor, Dijkstra?«
»Du kannst es dir noch nicht denken?« Der Spion ging neben ihm, drei Redanier hielten sich hinter ihnen. »Sag ehrlich, Hexer, wie kommt es, dass du hier aufgetaucht bist?«
»Ich fürchtete, dass die Kapuzinerkresse eingehen könnte.«
»Geralt.« Dijkstra schaute ihn schief an. »Du bist bis über den Kopf in die Scheiße geraten. Du bist aufgetaucht und hältst den Mund über der Oberfläche, aber mit den Füßen hast du immer noch nicht den Grund der Abortgrube erreicht. Jemand reicht dir eine Hand zur Hilfe und riskiert dabei, selber hineinzufallen und sich dreckig zu machen. Also lass die dummen Scherze. Yennefer hat dich hergeschickt, ja?«
»Nein. Yennefer schläft im warmen Bett. Beruhigt dich das?«
Der riesige Spion drehte sich mit einem Ruck um, packte den Hexer bei den Schultern und drückte ihn gegen die Wand des Korridors. »Nein, das beruhigt mich nicht, du verdammter Dummkopf«, zischte er. »Hast du noch nicht begriffen, dass die anständigen, den Königen treuen Zauberer diese Nacht nicht geschlafen haben? Dass sie überhaupt nicht zu Bett gegangen sind? In den warmen Betten schlafen die von Nilfgaard gekauften Verräter. Die käuflichen Subjekte, die selber einen Putsch vorhatten, aber später. Sie wussten nicht, dass ihre Pläne durchschaut sind und man ihren Absichten zuvorkommt. Und jetzt eben holt man sie aus den warmen Betten, haut ihnen Schlagringe in die Fresse, legt ihnen Handschellen aus Dwimerit um die Pfoten. Die Verräter sind erledigt, verstehst du? Wenn du nicht zusammen mit ihnen untergehen willst, hör auf, den Idioten zu spielen! Hat dich gestern Abend Vilgefortz vereinnahmt? Oder vielleicht schon vorher Yennefer? Rede! Schnell, denn die Scheiße fängt an, dir in den Mund zu laufen!«
»Mangold-Kaltschale, Dijkstra«, erinnerte ihn Geralt. »Führ mich zu Philippa. Ruhig, anständig und ohne Eskapaden.«
Der Spion ließ ihn los, trat einen Schritt zurück. »Gehen wir«, sagte er kalt. »Diese Treppe hinauf. Aber das Gespräch bringen wir zu Ende. Das verspreche ich dir.«
Dort, wo vier Korridore zusammenliefen, unter einer das Gewölbe tragenden Säule, war es hell von Laternen und magischen Kugeln. Hier drängten sich Redanier und Zauberer. Unter den Letzteren waren Ratsmitglieder – Radcliffe und Sabrina Glevissig. Wie Keira Metz trug Sabrina graue Männerkleidung. Geralt erfasste, dass man bei dem unter seinen Augen stattfindenden Putsch die Parteien an den Uniformen erkennen konnte.
Am Boden kniete Triss Merigold, über einen Körper gebeugt, der in einer Blutlache lag. Geralt erkannte Lydia van Bredevoort. Er erkannte sie an den Haaren und an dem Seidenkleid. Am Gesicht hätte er sie nicht erkannt, denn das war kein Gesicht mehr. Es war ein abscheulicher, makabrer Totenkopf, in dem bis zur Hälfte der Wangen freiliegende Zähne blitzten und eingefallene, schlecht verwachsene Kieferknochen zu sehen waren.
»Deckt sie zu«, sagte Sabrina Glevissig tonlos. »Als sie gestorben ist, hat sich die Illusion verflüchtigt ... Verdammt, deckt sie mit irgendwas zu!«
»Wie ist das geschehen, Radcliffe?«, fragte Triss und zog die Hand von dem vergoldeten Griff des Stiletts zurück, das unter Lydias Brustbein stak. »Wie konnte das geschehen? Es sollte ohne Tote abgehen!«
»Sie hat uns angegriffen«, murmelte der Zauberer mit gesenktem Kopf. »Als Vilgefortz abgeführt wurde, stürzte sie sich auf uns. Es kam zu einem Handgemenge ... Ich weiß selber nicht, auf welche Weise ... Das ist ihr eigenes Stilett.«
»Deckt ihr Gesicht zu!« Sabrina drehte sich heftig um. Sie bemerkte Geralt, ihre Raubtieraugen erglänzten wie Anthrazit. »Wie kommt denn der hierher?«
Triss sprang blitzschnell auf und zu dem Hexer hin. Geralt erblickte ihre Handfläche unmittelbar vor dem Gesicht. Dann nahm er einen Blitz wahr und versank sanft in Dunkelheit. Er fühlte eine Hand an seinem Kragen und einen heftigen Ruck.
»Haltet ihn fest, sonst fällt er hin.« Triss’ Stimme klang unnatürlich, es schwang darin gespielter Zorn. Sie riss abermals an ihm, so dass er sich für einen Augenblick ganz dicht vor ihr befand.
»Entschuldige«, hörte er sie rasch flüstern. »Es musste sein.«
Dijkstras Leute hielten ihn fest.
Er bewegte den Kopf. Stellte sich auf andere Sinne um. In den Korridoren herrschte Bewegung, die Luft wogte, trug Gerüche heran. Und Stimmen. Sabrina Glevissig fluchte. Triss redete auf sie ein. Nach Kaserne stinkende Redanier schleiften über den Fußboden einen schlaffen Körper, an dem ein Seidenkleid raschelte. Blut. Der Geruch von Blut. Und Ozongeruch. Der Geruch von Magie. Erregte Stimmen. Schritte, das nervöse Klopfen von Absätzen.
»Beeilt euch! Das dauert alles viel zu lange! Wir müssten längst in Garstang sein!«
Philippa Eilhart. Aufgeregt.
»Sabrina, mach schleunigst Marti Sodergren ausfindig. Wenn nötig, hol sie aus dem Bett. Um Gedymdeith steht es schlecht. Anscheinend ein Infarkt. Marti soll sich mit ihm befassen. Aber sag nichts, weder ihr noch dem, mit dem sie schläft. Triss, suche Dorregaray, Drithelm und Carduin und begleite sie nach Garstang.«
»Wozu?«
»Sie vertreten Könige. Ethain und Esterad sollen über unsere Aktion und ihre Ergebnisse informiert werden ... Du wirst sie begleiten ... Triss, du hast Blut an der Hand! Wer?«
»Lydia.«
»Verdammt. Wann? Wie?«
»Ist das Wie denn wichtig?« Eine kalte, ruhige Stimme. Tissaia de Vries. Das Rascheln eines Kleides. Tissaia trug ein Ballkleid. Nicht die Rebellenuniform. Geralt spitzte die Ohren, hörte aber keine Handschellen aus Dwimerit klirren.
»Du spielst die Ergriffene?«, wiederholte Tissaia. »Die Verzweifelte? Wenn man Revolten anzettelt, wenn man nachts bewaffnete Häscher hereinholt, muss man mit Opfern rechnen. Lydia lebt nicht mehr, Hen Gedymdeith liegt im Sterben. Vor einem Moment habe ich Artaud gesehen, dem man das Gesicht zerschlagen hat. Wie viele Opfer wird es noch geben, Philippa Eilhart?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Philippa fest. »Und ich weiche nicht zurück.«
»Natürlich. Du weichst vor nichts zurück.«
Die Luft erzitterte, die Absätze schlugen in einem bekannten Rhythmus auf den Boden. Philippa kam auf ihn zu. Er hatte sich den nervösen Rhythmus ihrer Schritte gemerkt, als sie tags zuvor zusammen durch den Saal in Aretusa gegangen waren, um sich an Kaviar zu delektieren. Er erinnerte sich an den Geruch von Zimt und Narde. Jetzt war dieser Geruch mit dem Geruch von Soda vermischt. Geralt schloss seine eigene Teilnahme an jedwedem Umsturz oder Putsch aus, doch er fragte sich, ob er, wenn er sich daran beteiligte, wohl daran denken würde, sich vorher die Zähne zu putzen.
»Er sieht dich nicht, Phil«, sagte Dijkstra scheinbar beiläufig. »Er sieht nichts und hat nichts gesehen. Die mit den schönen Haaren hat ihn geblendet.«
Er hörte Philippas Atem und spürte jede ihrer Bewegungen, bewegte aber ungeschickt den Kopf, um Ratlosigkeit zu mimen.
Die Zauberin ließ sich nicht täuschen. »Verstell dich nicht, Geralt. Triss hat dir die Augen zugekleistert, aber doch nicht den Verstand. Welches Wunder hat dich hierhergeführt?«
»Ich bin reingeraten. Wo ist Yennefer?«
»Gesegnet sind die, die nichts wissen.« In Philippas Stimme lag kein Spott. »Denn sie leben länger. Sei Triss dankbar. Es war ein sanfter Zauber, die Blendung wird bald vorübergehen. Und du hast nicht gesehen, was du nicht sehen durftest. Pass auf ihn auf, Dijkstra. Ich komme gleich wieder.«
Abermals eine Bewegung. Stimmen. Der volltönende Sopran von Keira Metz, Radcliffes nasaler Bass. Das Stapfen redanischer Stiefel. Und die erhobene Stimme von Tissaia de Vries.
»Lasst sie los! Wie könnt ihr es wagen? Wie konntet ihr ihr das antun?«
»Das ist eine Verräterin!« Nasal, Radcliffe.
»Das werde ich niemals glauben!«
»Blut ist dicker als Wasser.« Kalt, Philippa Eilhart. »Und Kaiser Emhyr hat den Elfen die Freiheit versprochen. Und einen eigenen, unabhängigen Staat. Hier, in diesen Ländern. Natürlich nachdem die Menschen hingemetzelt sind. Und das hat genügt, dass sie uns auf der Stelle verriet.«
»Antworte!« Tissaia de Vries, erregt. »Antworte ihr, Enid!«
»Antworte, Francesca.«
Das Klirren von Handschellen aus Dwimerit. Und der singende Elfenakzent von Francesca Findabair, der Aster aus den Tälern, der schönsten Frau der Welt.
»Va vort a me, Dh’oine. N’aen te a dice’n.«
»Genügt dir das, Tissaia?« Die Stimme Philippas, wie ein Bellen. »Glaubst du mir jetzt? Du, ich, wir alle sind und waren immer für sie Dh’oine, Menschen, denen sie, die Aen Seidhe, nichts zu sagen hat. Und du, Fercart? Was haben dir Vilgefortz und Emhyr versprochen, dass du dich zum Verrat entschlossen hast?«
»Geh zum Teufel, verrückte Vettel.«
Geralt hielt den Atem an, doch kein Geräusch eines auf eine Wange auftreffenden Schlagrings drang an sein Ohr. Philippa hatte sich besser unter Kontrolle als Keira. Oder keinen Schlagring.
»Radcliffe, bring die Verräter nach Garstang! Detmold, biete der Erzmeisterin de Vries deinen Arm an. Geht. Ich werde gleich nachkommen.«
Schritte. Der Geruch von Zimt und Narde.
»Dijkstra.«
»Zur Stelle, Phil.«
»Deine Untergebenen werden hier nicht mehr gebraucht. Sie sollen nach Loxia zurückkehren.«
»Bist du sicher, dass ...«
»Nach Loxia, Dijkstra!«
»Zu Befehl, gnädige Frau.« In der Stimme des Spions klang Spott. »Die Bauern gehen, sie haben das Ihre getan. Jetzt ist das ausschließlich eine Angelegenheit der Zauberer. Daher werde auch ich ungesäumt aus Eurer Hoheit schönen Augen gehen. Dank für die Hilfe und die Teilnahme an dem Putsch habe ich nicht erwartet, doch ich bin mir sicher, dass Eure Hoheit mich in dankbarer Erinnerung behalten wird.«
»Verzeih, Sigismund. Danke für die Hilfe.«
»Keine Ursache, die Freude ist ganz meinerseits. He, Voymir, sammle die Leute. Fünf bleiben bei mir. Den Rest führst du nach unten und lässt sie an Bord des ›Degens‹ gehen. Aber fein still, auf Zehenspitzen, ohne Lärm und Aufsehen. Auf Schleichpfaden. In Loxia und im Hafen – kein Sterbenswörtchen! Ausführung!«
»Du hast nichts gesehen, Geralt«, flüsterte Philippa Eilhart und hüllte den Hexer in den Geruch von Zimt, Narde und Soda ein. »Und nichts gehört. Mit Vilgefortz hast du niemals gesprochen. Dijkstra nimmt dich jetzt mit nach Loxia. Ich werde versuchen, dich dort zu finden, wenn ... Wenn alles vorbei ist. Ich habe dir gestern etwas versprochen und werde Wort halten.«
»Was ist mit Yennefer?«
»Das scheint bei ihm eine fixe Idee zu sein.« Mit den Füßen schurrend, kam Dijkstra zurück. »Yennefer, Yennefer ... Bis zum Überdruss. Kümmere dich nicht um ihn, Phil. Es gibt wichtigere Dinge. Ist bei Vilgefortz das gefunden worden, was man zu finden erwartet hat?«
»Gewiss. Bitte, das ist für dich.«
»Oho!« Das Rascheln von aufgefächertem Papier. »Oho, oho! Sehr schön. Herzog Nitert. Hervorragend. Baron ...«
»Diskreter, ohne Namen. Und ich bitte dich sehr, wenn du wieder in Dreiberg bist, fang nicht sofort mit den Hinrichtungen an. Ruf nicht vor der Zeit einen Skandal hervor.«
»Keine Angst. Die Burschen von dieser Liste, die so anfällig für Nilfgaarder Gold waren, sind in Sicherheit. Vorerst. Das werden meine geliebten Marionetten sein, bei denen ich an den Schnüren ziehe. Und später lege ich ihnen die Schnüre fein um die Hälse ... Interessant, gab es auch andere Briefe? Verräter aus Kaedwen, aus Temerien, aus Aedirn? Ich würde gern einen Blick drauf werfen. Wenigstens aus den Augenwinkeln ...«
»Ich weiß, dass du das gern tätest. Aber das ist nicht deine Angelegenheit. Diese Briefe haben Radcliffe und Sabrina Glevissig beschafft, sie werden schon wissen, was sie damit anfangen sollen. Und jetzt mach’s gut. Ich hab’s eilig.«
»Phil.«
»Ja.«
»Gib dem Hexer das Sehvermögen zurück. Er soll nicht auf der Treppe stolpern.«
Im Ballsaal von Aretusa dauerte das Bankett noch immer an, hatte aber eine herkömmlichere und vertrautere Form angenommen. Man hatte die Tische zusammengerückt, Zauberer und Zauberinnen hatten irgendwoher Sessel, Lehnstühle und Hocker geholt, darauf Platz genommen und widmeten sich verschiedener Kurzweil. Der Großteil dieser Kurzweil war taktlos. Eine große Gruppe, die sich rings um ein Fässchen Fuselschnaps niedergelassen hatte, trank, plauderte und brach von Zeit zu Zeit in lautes Gelächter aus. Wer noch vor kurzem auserlesene Happen elegant mit silbernen Gabeln aufgespießt hatte, nagte jetzt ungeniert an beidhändig gehaltenen Hammelrippen. Ein paar droschen Karten, ohne sich um ihre Umgebung zu scheren. Ein paar schliefen. In einem Winkel küsste sich ein Paar selbstvergessen, und die Leidenschaft, mit der sie es taten, wies darauf hin, dass sie es nicht beim Küssen bewenden lassen würden.
»Schau sie dir nur an, Hexer.« Dijkstra beugte sich über die Balustrade des Säulengangs und betrachtete die Zauberer von oben. »Wie froh sie sich vergnügen, man sollte meinen, wie die Dorfjugend. Und unterdessen hat ihr Rat beinahe ihr ganzes Kapitel am Arsch gekriegt und macht ihm den Prozess wegen Verrats, wegen Kungelei mit Nilfgaard. Schau dir dieses Pärchen an. Gleich werden sie sich ein ruhiges Eckchen suchen, und ehe sie fertig mit Bumsen sind, wird Vilgefortz hängen. Ach, eine sonderbare Welt ist das ...«
»Halt den Mund, Dijkstra.«
Der Weg, der nach Loxia führte, hatte sich als Zickzack von Treppen in die Flanke des Berges gegraben. Die Treppen verbanden Terrassen, die mit vernachlässigten Hecken, Blumenrabatten und leicht vertrockneten Agaven in großen Kübeln dekoriert waren. Auf einer der Terrassen, an der sie vorüberkamen, blieb Dijkstra stehen, ging an die Wand zu einer Reihe aus Stein gehauener Chimärenköpfe, aus deren Mäulern Wasser rieselte. Der Spion bückte sich, trank lange.
Der Hexer trat an die Balustrade. Das Meer glänzte golden, die Farbe des Himmels war noch kitschiger als auf den Bildern in der Galerie des Ruhmes. Weiter unten sah er die kleine Einheit der aus Aretusa fortgeschickten Redanier, die in Reih und Glied zum Hafen marschierten. Sie überquerten gerade eine kleine Brücke, die eine Felsspalte überspannte.
Was plötzlich seine Aufmerksamkeit fesselte, war eine einsame bunte Gestalt. Die Gestalt fiel ins Auge, denn sie bewegte sich schnell. Und in die den Redaniern entgegengesetzte Richtung. Herauf, nach Aretusa.
Dijkstra trieb ihn mit einem Räuspern an. »Na. Wer unterwegs ist, muss sich eilen.«
»Wenn du es so eilig hast, geh allein.«
»Klar doch.« Der Spion verzog das Gesicht. »Und du gehst wieder hinauf, deine Yennefer retten. Und wütest wie ein betrunkener Gnom. Wir gehen nach Loxia, Hexer. Hast du Halluzinationen oder sonst etwas am Kopfe? Glaubst du, ich hätte dich aus lange verhohlener Zuneigung aus Aretusa herausgeholt? Keineswegs. Ich habe dich dort herausgeholt, weil ich dich brauche.«
»Wozu?«
»Stellst du dich dumm? In Aretusa studieren zwölf Fräuleins aus den führenden Geschlechtern von Redanien. Ich kann keinen Konflikt mit der verehrten Rektrix riskieren, Margarita Laux-Antille. Sie wird mir Cirilla, die Fürstentochter von Cintra, die Yennefer nach Thanedd gebracht hat, nicht herausgeben. Dir hingegen wird sie sie geben. Wenn du sie darum bittest.«
»Wie kommst du zu der kühnen Vermutung, dass ich das tun würde?«
»Aufgrund der lächerlichen Annahme, dass dir an Cirillas Sicherheit gelegen ist. Unter meinem Schutz, unter dem Schutze von König Wisimir, wird sie in Sicherheit sein. In Dreiberg. Auf Thanedd ist sie nicht sicher. Enthalte dich boshafter Bemerkungen. Ja, ich weiß, dass die Könige anfangs mit dem Mädchen keine besonders schönen Pläne hatten. Aber das hat sich geändert. Inzwischen ist offensichtlich geworden, dass die lebendige, gesunde und sichere Cirilla in dem heraufziehenden Krieg mehr als zehn Haufen schwere Reiterei wert ist. Tot ist sie keinen Pfifferling wert.«
»Philippa Eilhart weiß, was du vorhast?«
»Sie weiß es nicht. Sie weiß nicht einmal, dass ich weiß, dass sich das Mädchen in Loxia befindet. Meine mitunter geliebte Phil trägt den Kopf hoch, aber König von Redanien ist immer noch Wisimir. Ich führe die Befehle Wisimirs aus, die Ränke der Zauberer gehen mich einen Dreck an. Cirilla setze ich an Bord des ›Degens‹ und fahre nach Nowigrad, von dort reite ich nach Dreiberg. Und sie wird sicher sein. Glaubst du mir?«
Der Hexer neigte sich zu einem der Chimärenköpfe, trank etwas Wasser, das aus dem monströsen Rachen plätscherte.
»Glaubst du mir?«, wiederholte Dijkstra, der sich vor ihm aufgebaut hatte.
Geralt richtete sich auf, wischte sich den Mund ab und haute ihm mit ganzer Kraft eine runter. Der Spion wankte, fiel aber nicht. Der am nächsten Stehende von den Redaniern sprang hinzu und wollte den Hexer packen, doch er griff ins Leere, und gleich darauf setzte er sich hin, spuckte Blut und einen Zahn. Da stürzten sich alle auf ihn. Es kam zu Gedränge, Verwirrung und Getümmel, und genau das hatte der Hexer bezweckt.
Ein Redanier krachte mit dem Gesicht gegen den Steinkopf einer Chimäre, das aus dem Rachen rieselnde Wasser färbte sich sogleich rot. Der zweite bekam einen Fausthieb auf die Luftröhre und krümmte sich, als habe man ihm die Genitalien herausgerissen. Der dritte, den ein Ellenbogen ins Auge traf, sprang stöhnend fort. Dijkstra umschlang den Hexer mit den Armen wie ein Bär, doch Geralt trat ihm kräftig mit dem Absatz auf den Fußrist. Der Spion heulte auf und begann urkomisch auf einem Bein zu hüpfen.
Der nächste Häscher wollte mit dem Dolch auf den Hexer einstechen, doch er stach in die Luft. Geralt packte ihn mit einer Hand am Ellenbogen, mit der anderen am Handgelenk, verdrehte es, während er zwei andere zu Boden stieß, die aufstehen wollten. Der Häscher war kräftig, er dachte gar nicht daran, den Dolch fallen zu lassen. Geralt verstärkte den Griff und brach ihm krachend den Arm.
Dijkstra, der noch immer auf einem Fuße sprang, hob die Partisane vom Boden auf und schickte sich an, den Hexer mit der dreizackigen Klinge an die Wand zu nageln. Geralt wich aus, fasste mit beiden Händen den Holzstiel und wandte das den Gelehrten bekannte Hebelgesetz an. Als der Spion sah, wie vor seinen Augen Ziegel und Mauerfugen anwuchsen, ließ er die Partisane los, konnte aber nicht mehr verhindern, dass er mit dem Schritt gegen den Wasser sprudelnden Kopf einer Chimäre prallte.
Geralt benutzte die Partisane, um den nächsten Häscher umzustoßen, dann stemmte er den Schaft gegen den Boden und zerbrach ihn mit einem Fußtritt, so dass er die Länge eines Schwertes bekam. Er erprobte den Knüppel, indem er zunächst Dijkstra, der rittlings auf der Chimäre saß, einen Schlag gegen den Hals versetzte und gleich darauf den heulenden Strolch mit dem gebrochenen Arm zum Schweigen brachte. Die Nähte des Doubletts waren unter beiden Achseln längst aufgeplatzt, und der Hexer fühlte sich erheblich besser.
Der letzte Halunke, der noch auf den Beinen war, griff ebenfalls mit einer Partisane an und glaubte, deren Länge werde ihm einen Vorteil verschaffen. Geralt schlug ihm gegen die Nasenwurzel, der Halunke setzte sich mit Schwung in einen Kübel mit einer Agave. Ein anderer Redanier, der außergewöhnlich hartnäckig war, packte einen Schenkel des Hexers und biss ihn schmerzhaft. Der Hexer wurde böse und nahm dem Beißer mit einem kräftigen Fußtritt die Möglichkeit, weiter zu beißen.
Da kam außer Atem Rittersporn die Treppe heraufgelaufen, sah, was vor sich ging, und wurde kreidebleich.
»Geralt!«, schrie er nach einem Moment. »Ciri ist verschwunden! Sie ist weg!«
»Das hatte ich erwartet.« Der Hexer teilte mit dem Knüppel einen Schlag an den nächsten Redanier aus, der keine Ruhe geben wollte. »Und du lässt vielleicht auf dich warten, Rittersporn. Ich habe dir gestern gesagt, wenn irgendwas passiert, sollst du, was die Beine hergeben, nach Aretusa kommen! Hast du mein Schwert mitgebracht?«
»Beide!«
»Das andere ist Ciris Schwert, du Idiot.« Geralt verpasste dem Strolch eins, der von der Agave aufzustehen versuchte.
»Ich versteh nichts von Schwertern«, keuchte der Dichter. »Bei den Göttern, hör auf, sie zu prügeln! Siehst du nicht die redanischen Adler? Das sind Leute von König Wisimir! Das bedeutet Verrat und Aufruhr, dafür kann man in den Knast kommen ...«
»Aufs Schafott«, stammelte Dijkstra, während er ein Stilett zog und wankenden Schrittes näher kam. »Ihr kommt beide aufs Schafott ...«
Mehr konnte er nicht sagen, denn er stürzte auf alle viere, vom abgebrochenen Schaft der Partisane seitlich am Kopf getroffen.
»Rädern«, mutmaßte Rittersporn mit finsterer Miene. »Vorher Reißen mit glühenden Zangen ...«
Der Hexer trat dem Spion gegen die Rippen. Dijkstra drehte sich auf die Seite wie ein getöteter Elch.
»Vierteilen«, mutmaßte der Dichter.
»Hör auf, Rittersporn. Gib beide Schwerter her. Und verschwinde von hier, aber schnell. Flieh von der Insel. Flieh, so weit du kannst!«
»Und du?«
»Ich kehre nach oben zurück. Ich muss Ciri retten ... Und Yennefer. Dijkstra, bleib brav liegen und lass das Stilett in Ruhe!«
»Damit kommst du nicht durch«, keuchte der Spion. »Ich werde mit meinen ... Werde dir folgen ...«
»Wirst du nicht.«
»Werde ich. An Bord des ›Degens‹ habe ich fünfzig Mann ...«
»Und ist ein Barbier darunter?«
»Hä?«
Geralt trat von hinten an den Spion heran, bückte sich, packte ihn bei einem Fuß, verdrehte den Fuß mit einem sehr kräftigen Ruck. Es knackte laut. Dijkstra heulte auf und wurde ohnmächtig. Rittersporn schrie, als sei es sein eigenes Gelenk.
»Was sie nach dem Vierteilen mit mir machen«, murmelte der Hexer, »kümmert mich wenig.«
In Aretusa herrschte Stille. Im Ballsaal waren nur vereinzelte Gestalten übriggeblieben, die keine Kraft mehr zum Lärmen hatten. Geralt mied den Saal, er wollte nicht bemerkt werden.
Nicht ohne Mühe fand er das Zimmer, in dem er mit Yennefer übernachtet hatte. Die Korridore des Palastes waren ein wahres Labyrinth, und alle sahen sie gleich aus.
Das Lumpenpüppchen schaute ihn mit gläsernen Augen an.
Er setzte sich aufs Bett und hielt sich mit beiden Händen den Kopf. Auf dem Zimmerboden war kein Blut. Doch auf der Rückenlehne des Sessels hing das Kleid. Yennefer hatte sich umgezogen. Trug sie jetzt Männerkleidung, die Uniform der Verschwörer?
Oder sie war in Unterwäsche abgeführt worden. Mit Handschellen aus Dwimerit.
In einer Fensternische saß Marti Sodergren, die Heilerin. Sie hob den Kopf, als sie seine Schritte hörte. Ihre Wangen waren tränennass.
»Hen Gedymdeith lebt nicht mehr«, sagte sie mit brechender Stimme. »Das Herz. Ich konnte nichts tun ... Warum haben sie mich so spät gerufen? Sabrina hat mich geschlagen. Ins Gesicht geschlagen. Warum? Was ist hier geschehen?«
»Hast du Yennefer gesehen?«
»Nein, habe ich nicht. Lass mich in Ruhe. Ich will allein sein.«
»Zeig mir den kürzesten Weg nach Garstang. Bitte.«
Oberhalb von Aretusa lagen drei von Gebüsch zugewucherte Terrassen, danach wurde die Bergflanke steil und unzugänglich. Über dem Steilhang ragte Garstang auf. An den Fundamenten war der Palast ein dunkler, homogen glatter, an die Felsen geklebter Steinblock. Erst das obere Stockwerk funkelte mit Marmor und Fensterscheiben, glänzte golden in der Sonne mit dem Blech der Kuppeln.
Der gepflasterte Weg, der nach Garstang und weiter hinauf zum Gipfel führte, wand sich wie eine Schlange um den Berg. Es gab jedoch noch einen kürzeren Weg – Treppen, die die Terrassen miteinander verbanden und direkt unter Garstang in einer schwarzen Tunnelöffnung verschwanden. Ebendiese Treppen hatte Marti Sodergren dem Hexer gewiesen.
Unmittelbar hinter dem Tunnel lag eine Brücke, die eine Schlucht überspannte. Jenseits der Brücke stiegen die Stufen steil an und verschwanden hinter einer Biegung. Der Hexer beschleunigte seinen Schritt.
Das Treppengeländer war mit Figuren von Faunen und Nymphen verziert. Die Figuren wirkten wie lebendig. Sie bewegten sich. Das Medaillon des Hexers begann heftig zu rucken.
Er rieb sich die Augen. Der Anschein von Bewegung beruhte darauf, dass die Figuren ihre Form änderten. Der glatte Stein verwandelte sich in eine poröse, gestaltlose Masse, von Wind und Salz zerfressen. Und erneuerte sich gleich darauf wieder.
Er wusste, was das bedeutete. Die Thanedd überdeckende Illusion war unstet, im Begriff zu verschwinden. Auch die kleine Brücke war zum Teil illusorisch. Durch die wie ein Sieb löchrige Tarnung hindurch schienen der Abgrund und der weit unten rauschende Wasserfall.
Es gab keine dunklen Platten, die den sicheren Weg wiesen. Er überquerte die Brücke langsam, achtete auf jeden Schritt und verfluchte im Stillen den Zeitverlust. Als er sich auf der anderen Seite des Abgrundes befand, hörte er die Schritte eines laufenden Menschen.
Er erkannte ihn sofort. Die Treppe herab kam Dorregaray gerannt, der Zauberer, der im Dienste König Ethains von Cidaris stand. Er erinnerte sich an Philippa Eilharts Worte. Die Zauberer, die die neutralen Könige vertraten, hatte man als Beobachter nach Garstang eingeladen. Doch Dorregaray hastete in einem Tempo über die Treppe, das annehmen ließ, die Einladung sei plötzlich abgesagt worden.
»Dorregaray!«
»Geralt?«, keuchte der Zauberer. »Was tust du hier? Bleib nicht stehen, flieh! Schnell nach unten, nach Aretusa!«
»Was ist passiert?«
»Verrat!«
»Was?«
Dorregaray zuckte plötzlich zusammen und begann sonderbar zu husten, und gleich darauf kippte er nach vorn und fiel geradewegs auf den Hexer. Ehe Geralt ihn auffing, bemerkte er den Schaft eines grau gefiederten Pfeils, der ihm aus dem Rücken ragte. Er warf sich mit dem Zauberer in den Armen zur Seite, und das rettete ihm das Leben, denn unmittelbar darauf prallte ein zweiter, ebensolcher Pfeil, der ihm die Kehle durchbohrt hätte, gegen die heuchlerisch lächelnde Visage eines steinernen Fauns und schlug ihm die Nase und ein Stück Wange ab. Der Hexer ließ Dorregaray los und tauchte hinter das Treppengeländer. Der Zauberer stürzte auf ihn.
Es waren zwei Schützen, und beide hatten Eichhörnchenschwänze an den Mützen. Der eine blieb oben auf der Treppe und spannte den Bogen, der andere zog ein Schwert aus der Scheide und stürmte herab, wobei er jeweils mehrere Stufen übersprang. Geralt warf Dorregaray ab, sprang auf und zog das Schwert. Ein Pfeil sang, der Hexer unterbrach das Singen, indem er die Pfeilspitze mit einem raschen Hieb der Klinge ablenkte. Der andere Elf war schon nahe, zögerte aber beim Anblick des abgelenkten Pfeils einen Augenblick lang. Doch nur einen Augenblick. Dann stürzte er sich auf den Hexer, holte mit dem Schwert zum Hieb aus. Geralt parierte kurz, schräg, damit die Klinge des Elfs von seiner abglitt. Der Elf verlor das Gleichgewicht, der Hexer wandte sich mit einer fließenden Bewegung um und traf ihn seitlich am Hals, unterm Ohr. Nur einmal. Das genügte.
Der Schütze oben auf der Treppe spannte wieder den Bogen, kam aber nicht dazu, die Sehne loszulassen. Geralt bemerkte einen Blitz, der Elf schrie, breitete die Arme aus und stürzte nach unten, wobei er sich auf den Stufen überschlug. Sein Wams brannte auf dem Rücken.
Die Treppe herab kam der nächste Zauberer gelaufen. Als er den Hexer erblickte, blieb er stehen, hob die Hände. Geralt verlor keine Zeit mit Erklärungen, warf sich platt zu Boden, und der flammende Kugelblitz schoss über ihn hinweg und zerschlug die Statue eines Fauns zu feinem Staub.
»Hör auf!«, schrie er. »Ich bin es, der Hexer!«
»Verdammt«, stieß der Zauberer hervor, während er im Laufschritt herankam. Geralt erinnerte sich vom Bankett her nicht an ihn. »Ich habe dich für einen von diesen Elfenbanditen gehalten ... Was ist mit Dorregaray? Lebt er?«
»Ich glaube ja ...«
»Schnell, auf die andere Seite der Brücke!«
Sie zogen Dorregaray hinüber, mit viel Glück, denn in der Eile achteten sie nicht auf die schwankende und verschwindende Illusion. Niemand verfolgte sie, trotzdem streckte der Zauberer die Arme aus, skandierte einen Spruch, und der nächste Blitz zerschmetterte die Brücke. Die Steine prasselten die Wände des Abgrunds entlang.
»Das müsste sie aufhalten«, sagte er.
Der Hexer wischte Blut ab, das Dorregaray aus dem Mund quoll. »Er hat eine durchschossene Lunge. Kannst du ihm helfen?«
»Ich kann es«, keuchte Marti Sodergren, die mit Mühe die Treppe heraufkam, von Aretusa, vom Tunnel her. »Was geht hier vor sich, Carduin? Wer hat auf ihn geschossen?«
»Scioa’tael.« Der Zauberer wischte sich mit dem Ärmel die Stirn ab. »In Garstang tobt ein Kampf. Verdammte Bande, einer besser als der andere! Philippa legt nachts Vilgefortz Handschellen an, und Vilgefortz und Francesca Findabair holen Eichhörnchen auf die Insel! Tissaia de Vries aber ... Verdammt, die hat ein Durcheinander angerichtet!«
»Red zusammenhängender, Carduin!«
»Ich werde keine Zeit mit Reden verschwenden! Ich fliehe nach Loxia, von dort aus teleportiere ich mich sofort nach Kovir. Und die dort, in Garstang, sollen sich gegenseitig abschlachten! Das hat keine Bedeutung mehr! Es ist Krieg! Diese ganze Rauferei hat Philippa angezettelt, um den Königen endlich den Krieg mit Nilfgaard zu ermöglichen! Meve von Lyrien und Demawend von Aedirn haben Nilfgaard provoziert! Versteht ihr?«
»Nein«, sagte Geralt. »Und wir wollen es auch gar nicht verstehen. Wo ist Yennefer?«
»Aufhören!«, schrie Marti Sodergren, über Dorregaray gebeugt. »Helft mir! Haltet ihn fest! Ich kann den Pfeil nicht herausziehen!«
Sie halfen ihr. Dorregaray stöhnte und zuckte, auch die Treppe bebte. Geralt glaubte zunächst, das sei die Magie von Martis Heilsprüchen. Doch es war Garstang. Plötzlich explodierten die Fensterscheiben, in den Fenstern des Palastes flackerte Feuer auf, ballte sich Rauch.
»Sie schlagen sich noch immer.« Carduin knirschte mit den Zähnen. »Da geht es hart auf hart, Spruch gegen Spruch ...«
»Zaubersprüche? In Garstang? Dort gibt es doch eine antimagische Aura!«
»Das ist Tissaias Werk. Sie hat sich plötzlich entschlossen, auf wessen Seite sie sich stellen will. Sie hat die Blockade gelöst, die Aura beseitigt und das Dwimerit neutralisiert. Und da sind sich alle an die Gurgeln gesprungen! Vilgefortz und Terranova auf der einen, Philippa und Sabrina auf der anderen Seite ... Es sind Säulen geborsten und Gewölbe eingestürzt ... Und Francesca hat einen Zugang zum Untergrund geöffnet, dort sprangen plötzlich diese Elfenteufel hervor ... Wir haben geschrien, dass wir neutral sind, aber Vilgefortz hat nur gelacht. Ehe wir einen Schirm aufbauen konnten, bekam Drithelm einen Pfeil ins Auge, Rejean haben sie gespickt wie einen Igel ... Die weitere Entwicklung der Ereignisse habe ich nicht abgewartet. Marti, dauert es noch lange? Wir müssen hier verschwinden!«
»Dorregaray wird nicht gehen können.« Die Heilerin wischte sich die blutigen Hände an dem weißen Ballkleid ab. »Teleportiere uns, Carduin.«
»Von hier aus? Du bist wohl wahnsinnig geworden. Der Tor Lara ist zu nahe. Das Lara-Portal strahlt aus und verzerrt jeden Teleport. Von hier aus kann man sich nicht teleportieren!«
»Er kann nicht gehen! Ich muss bei ihm bleiben ...«
»Dann bleib!« Carduin stand auf. »Und viel Spaß! Mir ist mein Leben lieb! Ich kehre nach Kovir zurück! Kovir ist neutral!«
»Schön.« Der Hexer spuckte aus, während er dem im Tunnel verschwindenden Zauberer nachschaute. »Kollegialität und Solidarität! Aber ich kann auch nicht bei dir bleiben, Marti. Ich muss nach Garstang. Dein neutraler Mitbruder hat die Brücke zerlegt. Gibt es einen anderen Weg?«
Marti Sodergren schniefte. Dann hob sie den Kopf und nickte.
Er war schon unter den Mauern von Garstang, als ihm Keira Metz auf den Kopf fiel.
Der Weg, den ihm die Heilerin gezeigt hatte, führte durch hängende Gärten, die ein Zickzack von Treppen verband. Die Treppen waren dicht von Efeu und Geißblatt überwuchert, das Grün erschwerte den Aufstieg, gab aber Deckung. Es gelang ihm, unbemerkt an den Fuß des Palastes zu gelangen. Als er den Eingang suchte, stürzte Keira auf ihn; beide fielen in die Schlehdornsträucher.
»Ich habe mir einen Zahn ausgeschlagen«, stellte die Zauberin mit leichtem Lispeln und finsterer Miene fest. Sie war zerzaust, schmutzig, mit Kalk und Ruß beschmiert, auf der Wange hatte sie einen großen Bluterguss.
»Und mir anscheinend ein Bein gebrochen«, fügte sie hinzu, wobei sie Blut spuckte. »Du bist das, Hexer? Auf dich bin ich gefallen? Durch welches Wunder?«
»Das frage ich mich auch.«
»Terranova hat mich aus dem Fenster geworfen.«
»Kannst du aufstehen?«
»Nein, kann ich nicht.«
»Ich will hinein. Unbemerkt. Wie mache ich das?«
»Sind alle Hexer« – Keira spuckte abermals aus, stöhnte, als sie sich auf den Ellenbogen zu stützen versuchte – »verrückt? In Garstang wird gekämpft! Da geht es derart zur Sache, dass der Stuck von den Wänden fällt! Willst du dir unbedingt Beulen holen?«
»Nein. Ich suche Yennefer.«
»Ha!« Keira stellte ihre Anstrengungen ein und legte sich auf den Rücken. »Ich wünschte, mich würde auch jemand so lieben. Nimm mich auf die Arme.«
»Vielleicht ein andermal. Ich bin etwas in Eile.«
»Nimm mich auf die Arme, sag ich! Ich zeige dir den Weg nach Garstang. Ich muss diesen Hundesohn Terranova erwischen. Na, worauf wartest du? Allein findest du den Eingang nicht, und wenn doch, erledigen dich diese Hundesöhne von Elfen ... Ich kann nicht gehen, bin aber noch imstande, ein paar Zaubersprüche zu wirken. Wenn sich uns jemand in den Weg stellt, wird er es bereuen.«
Sie schrie, als er sie aufhob.
»Entschuldige.«
»Macht nichts.« Sie legte ihm die Arme um den Hals. »Das ist das Bein. Du riechst immer noch nach ihrem Parfüm, weißt du das? Nein, nicht dorthin. Bieg ab und geh bergan. Es gibt einen anderen Eingang, auf der Seite von Tor Lara. Dort sind vielleicht keine Elfen ... Auu! Vorsichtig, verdammt!«
»Entschuldige. Wo kommen diese Scioa’tael her?«
»Sie waren im Untergrund. Thanedd ist hohl wie eine Schote, da gibt es eine große Kaverne, man kann mit einem Schiff hineinfahren, wenn man weiß, wie man es macht. Das Wie hat ihnen jemand verraten ... Auuu! Vorsicht! Schüttel mich nicht!«
»Entschuldige. Die Eichhörnchen sind also übers Meer gekommen? Wann?«
»Weiß der Kuckuck. Vielleicht gestern, vielleicht vor einer Woche? Wir haben uns auf einen Schlag gegen Vilgefortz vorbereitet und Vilgefortz gegen uns. Vilgefortz, Francesca, Terranova und Fercart ... Sie haben uns nicht schlecht über den Löffel balbiert ... Philippa glaubte, es gehe ihnen um die allmähliche Machtübernahme im Kapitel, um Einflussnahme auf die Könige ... Sie aber hatten vor, uns im Laufe der Zusammenkunft zu beseitigen ... Geralt, ich halte das nicht aus ... Das Bein ... Leg mich eine Weile hin. Auuu!«
»Keira, das ist ein offener Bruch. Das Blut dringt durch die Hose.«
»Halt den Mund und hör zu. Denn hier geht es um deine Yennefer. Wir kamen nach Garstang, in den Beratungssaal. Dort gibt es eine antimagische Blockade, aber sie wirkt nicht auf Dwimerit, wir fühlten uns sicher. Es begann ein Gezänk. Tissaia und die Neutralen schrien auf uns ein, wir auf sie. Vilgefortz aber schwieg und lächelte ...«
»Ich wiederhole, Vilgefortz ist ein Verräter! Er hat sich mit Emhyr von Nilfgaard gemein gemacht, andere in die Verschwörung hineingezogen! Er hat das Recht gebrochen, uns und die Könige verraten ...«
»Langsam, Philippa. Ich weiß, dass dir die Gunst, die dir Wisimir erweist, mehr bedeutet als die Solidarität der Bruderschaft. Dasselbe gilt für dich, Sabrina, denn du spielst die gleiche Rolle in Kaedwen. Keira Metz und Triss Merigold vertreten die Interessen Foltests von Temerien, Radcliffe ist ein Werkzeug Demawends von Aedirn ...«
»Was tut das zur Sache, Tissaia?«
»Die Interessen der Könige brauchen nicht mit unseren übereinzustimmen. Ich weiß genau, worum es geht. Die Könige haben die Ausrottung der Elfen und anderer Nichtmenschen in Angriff genommen. Vielleicht hältst du, Philippa, das für richtig. Vielleicht hältst du, Radcliffe, es für angebracht, die Truppen Demawends bei der Jagd auf die Scioa’tael zu unterstützen. Ich aber bin dagegen. Und es wundert mich nicht, dass Enid Findabair dagegen ist. Aber das bedeutet noch keinen Verrat. Unterbrich mich nicht! Ich weiß genau, was eure Könige vorhaben, weiß, dass sie einen Krieg vom Zaun brechen wollen. Maßnahmen, die diesen Krieg verhindern sollten, sind in den Augen deines Wisimir vielleicht Verrat, in meinen aber nicht. Wenn du Vilgefortz und Francesca verurteilen willst, musst du auch mich verurteilen!«
»Von was für einem Krieg ist hier die Rede? Mein König, Esterad von Kovir, wird keinerlei aggressive Handlungen gegen das Kaiserreich Nilfgaard unterstützen! Kovir ist und bleibt neutral!«
»Du bist Mitglied des Rates, Carduin! Und kein Botschafter deines Königs!«
»Und wer sagt das, Sabrina?«
»Genug!« Philippa schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich werde deine Neugier befriedigen, Carduin. Du fragst, wer einen Krieg vorbereitet? Nilfgaard bereitet ihn vor; es beabsichtigt, uns anzugreifen und zu vernichten. Doch Emhyr var Emreis hat die Anhöhe von Sodden nicht vergessen und beschlossen, sich diesmal abzusichern und die Zauberer aus dem Spiel zu bringen. Zu diesem Zweck hat er Verbindung zu Vilgefortz von Roggeveen aufgenommen. Er hat ihn gekauft, indem er ihm Macht und Ehren vesprochen hat. Ja, Tissaia. Vilgefortz, der Held von Sodden, soll demnach Statthalter und Herrscher sämtlicher eroberter Länder des Nordens werden. Vilgefortz, unterstützt von Terranova und Fercart, soll die Provinzen regieren, die anstelle der zerschlagenen Königreiche entstehen, er ist es, der die Nilfgaarder Peitsche über den in diesen Ländern lebenden Sklaven schwingen soll, die für das Kaiserreich schuften. Und Francesca Findabair, Enid an Gleanna, soll Königin eines Staates der Freien Elfen werden. Das wird natürlich ein Protektorat Nilfgaards sein, doch den Elfen genügt das, wenn Kaiser Emhyr ihnen nur freie Hand gibt, die Menschen hinzumetzeln. Elfen wünschen nichts sehnlicher, als Dh’oine zu ermorden.«
»Das ist eine schwere Anschuldigung. Darum werden auch die Beweise entsprechend schwer wiegen müssen. Aber ehe du diese Beweise auf den Tisch legst, Philippa Eilhart, sollst du meinen Standpunkt kennen. Beweise kann man fälschen, Taten und ihre Motive kann man deuten. Aber was Fakt geworden ist, kann nichts und niemand ändern. Du hast die Einheit und Solidarität der Bruderschaft gebrochen, Philippa Eilhart. Du hast Mitglieder des Kapitels wie Banditen in Fesseln geschlagen. Wage also nicht, mir einen Platz in dem neuen Kapitel anzubieten, das deine den Königen ergebene Putschistenbande zu bilden gedenkt. Zwischen uns liegen Tod und Blut. Der Tod Hen Gedymdeiths. Und das Blut Lydia van Bredevoorts. Dieses Blut hast du voller Verachtung vergossen. Du warst meine beste Schülerin, Philippa Eilhart. Ich bin immer stolz auf dich gewesen. Doch jetzt empfinde ich für dich nichts als Verachtung.«
Keira Metz war kreidebleich.
»Seit einiger Zeit«, flüsterte sie, »scheint es in Garstang stiller geworden zu sein. Es geht zu Ende ... Sie jagen einander durch den Palast. Dort gibt es fünf Etagen, sechsundsiebzig Zimmer und den Saal. Genug Platz, aufeinander Jagd zu machen ...«
»Du solltest von Yennefer sprechen. Beeil dich. Ich fürchte, du wirst das Bewusstsein verlieren.«
»Von Yennefer? Ach ja ... Alles ging nach unserem Plan, als plötzlich Yennefer auftauchte. Und ein Medium in den Saal führte ...«
»Wen?«
»Ein Mädchen, vielleicht vierzehn Jahre alt. Aschblonde Haare, große grüne Augen ... Ehe wir sie richtig betrachten konnten, begann sie zu weissagen. Sie erzählte von Ereignissen in Dol Angra. Und niemand zweifelte daran, dass sie die Wahrheit sprach. Sie war in Trance, und in Trance lügt man nicht.«
»Gestern Nacht«, sagte das Medium, »haben Truppen mit den Insignien Lyriens und den Standarten Aedirns eine Aggression gegen das Kaiserreich Nilfgaard verübt. Sie griffen Glevitzingen an, ein Grenzfort in Dol Angra. Herolde haben im Namen König Demawends in den umliegenden Dörfern verkündet, dass Aedirn fortan die Herrschaft über das ganze Land übernimmt. Die Bevölkerung wurde zum bewaffneten Aufstand gegen Nilfgaard aufgerufen ...«
»Das kann nicht sein! Das ist eine abscheuliche Provokation!«
»Wie glatt dir dieses Wort über die Lippen kommt, Philippa Eilhart«, sagte Tissaia de Vries ruhig. »Aber täusch dich nicht, dein Geschrei wird die Trance nicht durchbrechen. Sprich weiter, Kind.«
»Kaiser Emhyr var Emreis hat Befehl erteilt, einen Gegenschlag zu führen. Die Streitkräfte Nilfgaards sind heute bei Tagesanbruch in Lyrien und Aedirn einmarschiert.«
»So also«, sagte Tissaia lächelnd, »haben unsere Könige gezeigt, was für vernünftige, aufgeklärte und friedliebende Herrscher sie sind. Und manche Zauberer haben bewiesen, welcher Sache sie in Wahrheit dienen. Denjenigen, die einen Eroberungskrieg hätten verhindern können, wurden vorsorglich Handschellen aus Dwimerit angelegt und absurde Vorwürfe gemacht ...«
»Das alles sind lauter Lügen!«
»Zum Teufel mit euch allen!«, schrie plötzlich Sabrina Glevissig. »Philippa! Was hat das alles zu bedeuten? Was soll dieser Zusammenstoß in Dol Angra? Hatten wir nicht festgelegt, nicht zu früh zu beginnen? Warum hat sich dieser bescheuerte Demawend nicht zurückgehalten? Warum hat diese Schlampe Meve ...«
»Schweig, Sabrina!«
»Nicht doch, sie soll reden.« Tissaia de Vries hob die Stimme. »Sie soll von der an der Grenze konzentrierten Armee Henselts von Kaedwen reden. Sie soll von den Truppen Foltests von Temerien reden, die sicherlich schon die Boote zu Wasser lassen, die bisher im Gebüsch an der Jaruga versteckt lagen. Sie soll von dem Expeditionskorps unter Führung Wisimirs von Redanien reden, das am Pontar steht. Hast du geglaubt, Philippa, dass wir blind und taub sind?«
»Das ist eine einzige verdammte große Provokation! König Wisimir ...«
»König Wisimir«, fiel ihr mit gleichgültiger Stimme das aschblonde Medium ins Wort, »wurde gestern Nacht ermordet. Er wurde von einem Attentäter erstochen. Redanien hat keinen König mehr.«
»Redanien hatte schon seit langem keinen König.« Tissaia de Vries stand auf. »In Redanien herrschte Ihre Gnaden Philippa Eilhart, eine würdige Nachfolgerin Raffards des Weißen. Bereit, für die absolute Herrschaft zigtausende von Leben zu opfern.«
»Hört nicht auf sie!«, schrie Philippa. »Hört nicht auf dieses Medium! Das ist ein Werkzeug, ein vernunftloses Werkzeug ... Wem dienst du, Yennefer? Wer hat dich geheißen, dein Monster hierherzubringen?«
»Ich«, sagte Tissaia de Vries.
»Was war weiter? Was ist mit dem Mädchen geschehen? Was mit Yennefer?«
»Ich weiß nicht.« Keira schloss die Augen. »Tissaia hat plötzlich die Blockade aufgehoben. Mit einem einzigen Zauberspruch. Mein Lebtag habe ich noch nichts dergleichen gesehen ... Sie hat uns benebelt und blockiert, dann hat sie Vilgefortz und die anderen befreit ... Und Francesca hat einen Zugang zum Untergrund geöffnet, und plötzlich wimmelte es in Garstang von Scioa’tael. Ihr Führer war ein sonderbarer Kerl mit einem Nilfgaarder Flügelhelm. Geholfen hat ihm ein Typ mit einem Brandzeichen auf dem Gesicht. Der konnte Zaubersprüche wirken. Und sich gegen Magie abschirmen ...«
»Rience.«
»Kann sein, ich weiß nicht. Es ging heiß her ... Die Decke kam herunter. Zaubersprüche und Pfeile ... Ein Massaker ... Bei den anderen wurde Fercart getötet, bei uns Drithelm, Radcliffe, Marquard, Rejean und Bianca d’Este ... Triss Merigold hat eine Quetschung, Sabrina ist verwundet ... Als Tissaia die Leichen sah, erkannte sie ihren Fehler, versuchte uns zu schützen, Vilgefortz und Terranova zu mäßigen ... Vilgefortz hat sie ausgelacht und verspottet. Da verlor sie den Kopf und floh ... Ach, Tissaia ... So viele Tote ...«
»Was ist mit dem Mädchen und Yennefer?«
»Ich weiß nicht.« Die Zauberin begann zu husten, spuckte Blut. Sie atmete sehr flach und mit sichtlicher Mühe. »Nach einer von den vielen Explosionen habe ich für einen Augenblick das Bewusstsein verloren. Der mit der Narbe und seine Elfen haben mich außer Gefecht gesetzt. Terranova hat mir erst einen Fußtritt verpasst und mich dann aus dem Fenster geworfen.«
»Es ist nicht nur das Bein. Du hast gebrochene Rippen.«
»Lass mich nicht allein.«
»Ich muss. Ich komme zurück.«
»Schön wär’s.«
Anfangs war da nur ein zuckendes Chaos, das Pulsieren von Schatten, ein Wirbel von Helligkeit und Finsternis, ein Chor von bellenden, aus einem Abgrund herandringenden Stimmen. Plötzlich wurden die Stimmen lauter, die Umgebung explodierte in Geschrei und Lärm. Die Helligkeit inmitten der Finsternis wurde zum Feuer, das Wandbehänge und Gobelins verschlang, zu Funkenschauern, die aus den Wänden hervorzusprühen schienen, aus den Balustraden und den Säulen, die das Gewölbe hielten.
Ciri begann vom Rauch zu krächzen und begriff, dass das kein Traum mehr war.
Sie versuchte aufzustehen, indem sie sich auf die Hände stützte. Sie traf mit den Handflächen auf etwas Feuchtes, schaute hinab. Sie kniete in einer Blutlache. Direkt neben ihr lag ein regloser Körper. Der Körper eines Elfs. Sie erkannte das sofort.
»Steh auf.«
Yennefer stand neben ihr. In der Hand hielt sie ein Stilett.
»Frau Yennefer ... Wo sind wir? Ich kann mich an nichts erinnern ...«
Die Zauberin fasste sie rasch bei der Hand. »Ich bin bei dir, Ciri.«
»Wo sind wir? Warum brennt alles? Wer ist dieser ... der hier?«
»Ich habe dir einmal, vor einer Ewigkeit, gesagt, dass das Chaos nach dir die Hand ausstreckt. Weißt du noch? Nein, sicherlich nicht mehr. Dieser Elf hat die Hand nach dir ausgestreckt. Ich musste ihn mit dem Messer töten, denn seine Auftraggeber warten nur darauf, dass eine von uns sich offenbart, indem sie Magie einsetzt. Und sie werden es erleben, aber noch nicht jetzt ... Bist du schon vollends bei Bewusstsein?«
»Diese Zauberer ...«, flüsterte Ciri. »Die in dem großen Saal ... Was habe ich ihnen gesagt? Und warum habe ich das gesagt? Ich wollte überhaupt nicht ... Aber ich musste reden! Warum? Warum, Frau Yennefer?«
»Still, Eulchen. Ich habe einen Fehler gemacht. Niemand ist vollkommen.«
Von unten drangen Poltern und ein durchdringender Schrei herauf.
»Komm. Schnell. Wir haben keine Zeit.«
Sie liefen einen Korridor entlang. Der Rauch wurde immer dichter, nahm den Atem, die Sicht. Die Mauern erzitterten von Explosionen.
»Ciri.« Yennefer blieb an der Kreuzung zweier Korridore stehen, drückte dem Mädchen fest die Hand. »Hör mir jetzt zu, hör aufmerksam zu. Ich muss hierbleiben. Siehst du diese Treppe? Du gehst hinab ...«
»Nein! Lass mich nicht allein!«
»Ich muss. Noch einmal: Du gehst diese Treppe hinab. Bis ganz nach unten. Dort ist eine Tür, dahinter ein langer Korridor. Am Ende des Korridors ist ein Stall, darin steht ein gesatteltes Pferd. Nur eins. Du führst es hinaus und sitzt auf. Das ist ein geübtes Pferd, es dient den Boten, die nach Loxia reiten. Es kennt den Weg, du brauchst es nur anzutreiben. Wenn du in Loxia bist, machst du Margarita ausfindig und unterstellst dich ihrem Schutz. Weiche keinen Schritt von ihrer Seite ...«
»Frau Yennefer! Nein! Ich will nicht allein sein!«
»Ciri«, sagte die Zauberin leise. »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass ich alles, was ich tue, zu deinem Besten tue. Vertrau mir. Ich bitte dich, vertrau mir. Lauf.«
Ciri war schon auf der Treppe, als sie Yennefers Stimme noch einmal hörte. Die Zauberin stand an einer Säule, presste die Stirn dagegen.
»Ich hab dich lieb, Töchterchen«, sagte sie undeutlich. »Lauf.«
Sie umzingelten sie auf halber Treppe. Von unten zwei Elfen mit Eichhörnchenschwänzen an den Mützen, von oben ein Mensch in schwarzer Kleidung. Ciri sprang ohne zu überlegen übers Geländer und floh in einen Seitenkorridor. Sie rannten ihr nach. Sie war schneller und wäre ihnen mühelos entkommen, hätte der Korridor nicht an einer Fensteröffnung geendet.
Sie schaute hinaus. Die Mauer entlang zog sich ein Steinsims, vielleicht zwei Spannen breit. Ciri stieg über die Brüstung und trat hinaus. Sie entfernte sich vom Fenster, mit dem Rücken an die Mauer gepresst. In der Ferne glänzte das Meer.
Aus dem Fenster lehnte sich ein Elf. Er hatte helles Haar und grüne Augen, um den Hals ein Seidentuch. Ciri schob sich rasch fort, zu einem anderen Fenster hin. Doch zu diesem Fenster schaute der Mensch in der schwarzen Kleidung heraus. Er hatte dunkle und widerwärtige Augen, auf der Wange einen rötlichen Fleck.
»Wir haben dich, Mädchen!«
Sie schaute nach unten. Unter sich, sehr weit, sah sie einen Hof. Über dem Hof aber, vielleicht zehn Fuß unter dem Sims, auf dem sie stand, spannte sich eine Brücke zwischen zwei Kreuzgängen. Nur dass das keine Brücke war. Es waren die Trümmer einer Brücke. Ein schmaler steinerner Steg mit Resten des eingestürzten Geländers.
»Worauf wartet ihr?«, rief der mit der Narbe. »Klettert raus und greift sie euch!«
Der hellhaarige Elf kam vorsichtig auf den Sims, presste sich mit den Schultern an die Wand. Er streckte die Hände aus. Kam näher.
Ciri schluckte Speichel hinunter. Der steinerne Steg, die Überbleibsel einer Brücke, war nicht schmaler als das Schaukelbrett in Kaer Morhen, und sie war Dutzende Male auf das Schaukelbrett gesprungen, sie konnte den Sprung abfedern und das Gleichgewicht halten. Das Schaukelbrett der Hexer freilich hing vier Fuß über dem Boden, unter dem steinernen Steg jedoch gähnte ein derart tiefer Abgrund, dass die Steinplatten des Hofes nicht einmal handgroß aussahen.
Sie sprang, landete, hielt das Gleichgewicht, wobei sie an dem eingefallenen Geländer Halt fand. Mit sicheren Schritten erreichte sie einen Säulengang. Sie konnte es sich nicht verkneifen – sie drehte sich um und zeigte den Verfolgern den gekrümmten Ellenbogen, eine Geste, die ihr der Zwerg Yarpen Zigrin beigebracht hatte. Der Mann mit der Narbe fluchte laut.
»Spring!«, rief er dem hellhaarigen Elf zu, der auf dem Sims stand. »Spring ihr nach!«
»Du musst verrückt sein, Rience«, sagte der Elf kalt. »Spring selber, wenn’s beliebt.«
Wie üblich war ihr das Glück nicht lange hold. Als sie aus dem Säulengang hinter eine Mauer lief, ins Schlehdorngebüsch, wurde sie gepackt. Der sie gepackt hatte und mit unheimlich starkem Griff festhielt, war ein untersetzter Mann mit angeschwollener Nase und aufgeplatzter Wange.
»Da haben wir dich ja«, zischte er. »Da haben wir dich, Püppchen!«
Ciri zuckte zusammen und schrie auf, denn die ihre Schultern umklammernden Hände sandten plötzlich einen krampfartigen Schmerz aus, der ihr die Kraft nahm. Der Mann lachte laut auf.
»Zapple nicht, graues Vögelchen, denn sonst senge ich dir die Federchen an. Komm, lass dich anschauen. Ich will einen Blick auf das Küken werfen, das für Emhyr var Emreis, den Imperator von Nilfgaard, so viel wert ist. Und für Vilgefortz.«
Ciri hörte auf, sich zu winden.
Der untersetzte Mann leckte sich die aufgeplatzte Lippe. »Merkwürdig«, zischte er und beugte sich zu ihr herab. »Anscheinend so wertvoll, aber ich, weißt du, würde für dich keinen roten Heller geben. Wie der Schein doch trügt. Ha! Mein Schatz! Und wenn nicht Vilgefortz dich Emhyr auf dem Präsentierteller überreichen würde, nicht Rience, nicht dieser Laffe mit dem gefiederten Helm, sondern der alte Terranova? Ob Emhyr dem alten Terranova seine Gunst erweisen würde? Was sagst du dazu, kleine Weissagerin? Denn weissagen kannst du ja!«
Sein Atem stank unerträglich. Ciri drehte den Kopf weg, verzog das Gesicht. Er verstand es falsch.
»Picke nicht mit dem Schnäbelchen nach mir, Vögelchen! Ich fürchte mich nicht vor Vögelchen. Oder sollte ich? Was, falsche Wahrsagerin? Untergeschobene Prophetin? Sollte ich mich vor Vögelchen fürchten?«
»Solltest du«, flüsterte Ciri, die spürte, wie sich ihr der Kopf drehte und eine plötzliche Kälte sie erfasste.
Terranova lachte und warf den Kopf zurück. Das Lachen wurde zu einem Schmerzensschrei. Eine große graue Eule segelte lautlos von oben herab und schlug ihm die Krallen in die Augen. Der Zauberer ließ Ciri los, riss die Eule mit einer heftigen Bewegung von sich los, doch gleich darauf stürzte er auf die Knie und fasste sich ans Gesicht. Zwischen seinen Fingern quoll Blut hervor. Ciri schrie auf, wich zurück. Terranova nahm die blutigen und schleimbedeckten Hände vom Gesicht, begann mit wilder, brechender Stimme einen Zauberspruch zu skandieren. Es gelang ihm nicht. Hinter seinem Rücken tauchte eine undeutliche Gestalt auf, eine Hexerklinge pfiff durch die Luft und durchtrennte ihm den Hals direkt unterm Genick.
»Geralt!«
»Ciri.«
»Jetzt ist keine Zeit für Gefühlsduselei«, sagte von der Mauerkrone her die Eule, während sie sich in eine dunkelhaarige Frau verwandelte. »Flieht! Es kommen Eichhörnchen!«
Ciri löste sich aus Geralts Armen, schaute verwundert zu ihr hin. Die auf der Mauerkrone sitzende Eulenfrau sah grässlich aus. Sie war angesengt, zerlumpt, mit Asche und Blut beschmiert.
»Du kleines Ungeheuer«, sagte die Eulenfrau von oben herabblickend. »Für diese deine Weissagung zur Unzeit müsstest du ... Aber ich habe deinem Hexer etwas versprochen, und ich halte immer Wort. Ich konnte dir Rience nicht geben, Geralt. Zum Ausgleich gebe ich dir sie. Lebendig. Flieht!«
Cahir Mawr Dyffryn aep Ceallach war wütend. Das Mädchen, das zu ergreifen ihm befohlen war, hatte er nur für einen Moment gesehen, und noch ehe er etwas unternehmen konnte, hatten diese verdammten Zauberer in Garstang so ein Höllenspektakel aufgeführt, dass es unmöglich war, irgendetwas zu unternehmen. Cahir hatte inmitten von Rauch und Feuer die Orientierung verloren, war blindlings durch die Korridore geirrt, über Treppen und Galerien gerannt und hatte dabei Vilgefortz, Rience, sich selbst und die ganze Welt verflucht.
Von einem Elf, dem er begegnet war, hatte er erfahren, dass man das Mädchen außerhalb des Palastes gesehen hatte, wie es in Richtung Aretusa floh. Und dann war das Glück Cahir hold. Die Scioa’tael fanden im Stall ein gesatteltes Pferd.
»Lauf voran, Ciri. Sie sind nahe. Ich werde sie aufhalten, du aber lauf. Lauf, so schnell du kannst! Wie auf der ›Quälerei‹!« »Du willst mich auch alleinlassen?«
»Ich werde dicht hinter dir sein. Aber schau nicht zurück!«
»Gib mir mein Schwert, Geralt.«
Er schaute sie an. Ciri wich instinktiv zurück. Solche Augen hatte sie bei ihm noch niemals gesehen.
»Wenn du ein Schwert hast, wirst du vielleicht töten müssen. Wirst du es können?«
»Ich weiß nicht. Gib mir das Schwert.«
»Lauf. Und schau nicht zurück.«
Auf der Straße ertönte Hufschlag. Ciri schaute sich um. Und erstarrte, von Furcht gelähmt.
Es verfolgte sie ein schwarzer Ritter mit einem Helm, der mit den Flügeln eines Raubvogels verziert war. Die Flügel rauschten, der schwarze Mantel wehte. Die Hufeisen schlugen Funken aus dem Straßenpflaster.
Sie war nicht imstande, sich zu bewegen.
Das schwarze Pferd brach durch Büsche am Straßenrand, der Ritter schrie laut. In diesem Schrei lag Cintra. Darin lagen Nacht, Mord, Blut und Brand. Ciri überwand die Furcht, die sich ihrer bemächtigt hatte, und wandte sich zur Flucht. Mit Anlauf sprang sie über eine Hecke, gelangte in einen kleinen Hof mit einem Springbrunnen. Der Hof hatte keinen Ausgang, ringsum lagen Mauern, hoch und glatt. Das Pferd schnaubte dicht hinter ihrem Rücken. Sie wich zurück, strauchelte und zuckte zusammen, als sie mit dem Rücken gegen die harte, unnachgiebige Wand stieß. Sie saß in der Falle.
Der Raubvogel schlug mit den Flügeln, stieg zum Flug auf. Der schwarze Ritter riss das Pferd hoch, übersprang die Hecke, die ihn vom Hof trennte. Klirrend trafen die Hufe auf die Steinplatten, das Pferd glitt aus, rutschte nach vorn, setzte sich auf die Hinterkeulen. Der Ritter wankte im Sattel, beugte sich vor. Das Pferd kam wieder auf die Beine, und der Ritter fiel herab, dass die Rüstung auf dem Stein schepperte. Er erhob sich jedoch sofort wieder, schnitt Ciri rasch den Weg aus der Ecke ab.
»Du wirst mich nicht anrühren!«, rief sie und zog das Schwert. »Nie mehr wirst du mich anrühren!«
Der Ritter kam langsam näher, ragte vor ihr auf wie ein riesiger schwarzer Turm. Die Flügel an seinem Helm regten sich und raschelten.
»Du entkommst mir nicht mehr, Löwenjunges von Cintra.« Im Visierschlitz des Helms brannten gnadenlose Augen. »Diesmal nicht. Diesmal kannst du nirgendhin entfliehen, verrücktes Fräulein.«
»Du wirst mich nicht anrühren«, wiederholte sie mit vor Entsetzen gedrückter Stimme, den Rücken gegen die steinerne Wand gepresst.
»Ich muss. Ich führe Befehle aus.«
Als er die Hand nach ihr ausstreckte, verschwand die Furcht plötzlich, an ihre Stelle trat wilder Zorn. Die angespannten, vor Schrecken erstarrten Muskeln kamen wie Sprungfedern in Gang, alle in Kaer Morhen erlernten Bewegungen liefen von selbst ab, glatt und fließend. Ciri sprang, der Ritter stürzte sich auf sie, war aber nicht auf die Pirouette gefasst, mit der sie sich mühelos der Reichweite seiner Hände entzog. Das Schwert heulte auf und biss zu, traf zielsicher zwischen die Platten seines Panzers. Der Ritter wankte, fiel auf ein Knie, unter dem Schulterstück quoll hellrotes Blut hervor. Ciri schrie wütend auf, vollführte eine Pirouette um ihn herum, schlug abermals zu, diesmal direkt auf die Helmglocke, was den Ritter aufs zweite Knie warf. Wut und Raserei ließen sie nichts sehen als die verhassten Flügel. Die schwarzen Federn stiebten, einer der Flügel fiel ab, der andere hing auf das blutige Schulterstück herunter. Der Ritter, der sich immer noch vergeblich bemühte, auf die Füße zu kommen, versuchte die Schwertklinge mit der gepanzerten Faust festzuhalten und stöhnte vor Schmerz auf, als das Hexerschwert durch den Kettenpanzer in die Handfläche schnitt. Unter dem nächsten Schlag fiel der Helm herab. Ciri sprang zurück, um für den letzten, tödlichen Stoß Schwung zu holen.
Sie stieß nicht zu.
Da war kein schwarzer Helm mehr, verschwunden die Flügel eines Raubvogels, deren Rauschen sie in den Albträumen verfolgt hatte. Der schwarze Ritter von Cintra war nicht mehr da. Da war ein in einer Blutlache kniender bleicher, dunkelhaariger junger Mann mit rasenden blauen Augen und einem zu einer Grimasse der Angst verzerrten Mund. Der schwarze Ritter von Cintra war unter den Hieben ihres Schwertes gefallen, er existierte nicht mehr, von den furchterregenden Schwingen waren nur zerhackte Federn geblieben. Der fassungslose, zusammengekrümmte, blutende junge Mann war ein Niemand. Sie kannte ihn nicht, hatte ihn niemals gesehen. Er ging sie nichts an. Sie hatte keine Angst vor ihm, hasste ihn nicht. Und sie wollte ihn nicht töten.
Sie ließ das Schwert aufs Pflaster fallen.
Sie wandte sich um, als sie die Rufe der Scioa’tael hörte, die von Garstang her gerannt kamen. Ihr war klar, dass sie sie jeden Augenblick in dem Hof umzingeln würden. Ihr war klar, dass sie sie auf der Straße einholen würden. Sie musste schneller sein als sie. Sie lief zu dem Rappen, der mit den Hufen auf die Steinplatten hieb, trieb ihn mit einem Schrei zum Galopp an, während sie aus dem Lauf in den Sattel sprang.
»Lasst mich«, stöhnte Cahir Mawr Dyffryn aep Ceallach und stieß mit dem gesunden Arm die Elfen weg, die ihn aufheben wollten. »Ich habe nichts! Das ist eine leichte Wunde ... Verfolgt sie. Verfolgt das Mädchen ...«
Einer der Elfen schrie auf, und Cahir spritzte Blut ins Gesicht. Ein zweiter Scioa’tael wankte und sank in die Knie, beide Hände auf den aufgeschlitzten Bauch gepresst. Die übrigen sprangen fort, verteilten sich über den Hof, ließen die Schwerter blitzen.
Der Angreifer war ein weißhaariges Ungeheuer. Er war von der Mauer auf sie herabgesprungen. Von einer Höhe, aus der niemand springen konnte, ohne sich die Beine zu brechen. Aus der man nicht weich landen konnte, in einer Pirouette herumwirbeln, der kein Blick folgen konnte, und im Bruchteil einer Sekunde töten. Doch das weißhaarige Ungeheuer vollbrachte es. Und begann zu töten.
Die Scioa’tael kämpften verbissen. Sie waren in der Überzahl. Doch sie hatten keine Chance. Vor den entsetzten Augen Cahirs wurde ein Massaker verübt. Das aschblonde Mädchen, das ihn vor einem Moment verwundet hatte, war schnell gewesen, unglaublich schnell, wie eine Katze, die ihre Jungen verteidigt. Doch das weißhaarige Ungeheuer, das zwischen die Scioa’tael gesprungen war, glich einem serrikanischen Tiger. Das aschblonde Fräulein aus Cintra, das ihn aus unerfindlichem Grund verschont hatte, hatte wie rasend gewirkt. Das weißhaarige Ungeheuer war nicht in Raserei. Es war ruhig und kalt. Es mordete ruhig und kalt.
Die Scioa’tael hatten keinerlei Chance. Eine nach der anderen stürzten ihre Leichen auf die Steinplatten des Hofes. Doch sie wichen nicht zurück. Nicht einmal, als ihrer nur noch zwei waren, flohen sie, sondern griffen das weißhaarige Ungeheuer noch einmal an. Vor Cahirs Augen schlug das Ungeheuer einem der beiden den Arm überm Ellenbogen ab, dem anderen versetzte er einen scheinbar leichten, beiläufigen Hieb, der jedoch den Elf nach hinten warf, ihn über den Brunnenrand ins Wasser stürzen ließ. Das Wasser schwappte als karminrote Welle über den Rand.
Der Elf mit dem abgehauenen Arm kniete beim Brunnen, schaute mit fahlem Blick auf den Blut verströmenden Stumpf. Das weißhaarige Ungeheuer packte ihn bei den Haaren und schnitt ihm mit einer raschen Bewegung des Schwertes die Kehle durch.
Als Cahir die Augen wieder öffnete, war das Ungeheuer schon bei ihm.
»Töte mich nicht ...«, flüsterte er und gab den Versuch auf, von dem Steinboden aufzustehen, der vom Blute glitschig war. Die Hand, die ihm das aschblonde Mädchen zerschnitten hatte, schmerzte nicht mehr, war wie abgestorben.
»Ich weiß, wer du bist, Nilfgaarder.« Der Weißhaarige gab dem Helm mit den zerhackten Federn einen Tritt. »Du hast sie hartnäckig und lange verfolgt. Doch du wirst ihr kein Leid mehr antun können ...«
»Töte mich nicht ...«
»Nenn mir einen Grund. Wenigstens einen. Beeil dich.«
»Ich war es ...«, stieß Cahir flüsternd hervor. »Ich war es, der sie damals aus Cintra herausgebracht hat. Aus der Feuersbrunst ... Ich habe sie gerettet. Ihr das Leben gerettet ...«
Als er abermals die Augen öffnete, war das Ungeheuer fort, er aber war in dem Hof allein mit den Leichen der Elfen. Das Wasser im Brunnen rauschte, floss über den Rand, vermischte sich mit dem Blut auf dem Boden. Cahir wurde ohnmächtig.
Am Fuße des Turms stand ein Bauwerk, das einen einzigen großen Saal bildete oder wohl eher eine Art Säulenhof. Das Dach, sicherlich eine Illusion, hatte Löcher, durch die Licht fiel. Es ruhte auf Säulen, die in Form spärlich bekleideter Karyatiden mit imponierendem Busen gehauen waren. Ebensolche Karyatiden stützten den Torbogen, in dem Ciri verschwunden war. Jenseits des Tores erblickte Geralt eine Treppe, die aufwärts führte. Zum Turm.
Er fluchte halblaut. Er verstand nicht, warum sie dorthingelaufen war. Als er ihr auf den Mauerkronen nachgerannt war, hatte er gesehen, wie ihr Pferd stürzte. Er hatte gesehen, wie sie geschickt absprang, doch statt weiter der sich in Serpentinen um den Berg windenden Straße abwärts zu folgen, war sie plötzlich hinaufgerannt, zu dem einsamen Turm hin. Erst später hatte er auf der Straße Elfen bemerkt. Die Elfen hatten weder Ciri noch ihn gesehen, sie waren damit beschäftigt, Pfeile auf bergauf laufende Menschen abzuschießen. Von Aretusa her kam Verstärkung.
Er hatte vor, Ciri die Treppe hinauf zu folgen, als er ein Rauschen hörte. Von oben her. Er wandte sich rasch um. Es war kein Vogel.
Mit den weiten Ärmeln raschelnd, kam durch ein Loch im Dach Vilgefortz geflogen, senkte sich langsam auf den Boden.
Geralt stellte sich vor den Eingang zum Turm, zog das Schwert und seufzte. Er hatte aufrichtig gehofft, der dramatische Endkampf werde sich zwischen Vilgefortz und Philippa Eilhart abspielen. Er selbst hatte zu derlei Dramatik nicht die mindeste Lust.
Vilgefortz klopfte sein Wams ab, rückte die Manschetten zurecht, schaute den Hexer an und las seine Gedanken. »Verdammte Dramatik«, seufzte er.
Geralt enthielt sich eines Kommentars.
»Sie ist in den Turm gelaufen?«
Er antwortete nicht.
Der Zauberer nickte. »Da haben wir also den Epilog«, sagte er kalt. »Das Ende, das das Werk krönt. Aber vielleicht ist das die Vorherbestimmung? Weißt du, wohin diese Stufen führen? Zum Tor Lara. Zum Möwenturm. Von dort gibt es keinen Ausgang. Alles ist zu Ende.«
Geralt wich zurück, damit seine Flanken von den Karyatiden gedeckt wurden, die den Torbogen trugen.
»Freilich«, zischte er und beobachtete dabei die Hände des Zauberers. »Alles ist zu Ende. Die Hälfte deiner Komplizen lebt nicht mehr. Die Leichen der auf die Insel geholten Elfen säumen den Weg von hier bis nach Garstang. Die übrigen sind geflohen. Von Aretusa sind Zauberer und die Leute Dijkstras im Anmarsch. Der Nilfgaarder, der Ciri ergreifen sollte, ist sicherlich schon verblutet. Und Ciri ist dort, im Turm. Es gibt von dort keinen Ausgang? Das freut mich zu hören. Also führt auch nur ein Eingang dorthin. Der, den ich versperre.«
Vilgefortz entrüstete sich. »Du bist unverbesserlich. Du bist immer noch nicht imstande, die Situation richtig einzuschätzen. Kapitel und Rat existieren nicht mehr. Kaiser Emhyrs Truppen sind auf dem Vormarsch nach Norden; ohne Rat und Hilfe der Zauberer sind die Könige hilflos wie Kinder. Unter dem Ansturm von Nilfgaard werden ihre Reiche einstürzen wie Sandburgen. Ich habe es dir gestern angeboten, und ich wiederhole heute: Schließ dich den Siegern an. Spuck auf die Verlierer.«
»Du bist der Verlierer. Für Emhyr warst du nur ein Werkzeug. Ihm ging es um Ciri, darum hat er diesen Typ mit dem Flügelhelm geschickt. Ich frage mich, was Emhyr mit dir machen wird, wenn du ihm das Scheitern der Mission meldest.«
»Du schießt ins Blaue hinein, Hexer. Und natürlich triffst du nicht. Und wenn ich dir nun sagen würde, dass Emhyr mein Werkzeug ist?«
»Würde ich es nicht glauben.«
»Geralt, sei vernünftig. Willst du wirklich Theater spielen, den Endkampf zwischen Gut und Böse? Ich erneuere das Angebot von gestern. Es ist durchaus noch nicht zu spät. Du kannst noch immer deine Wahl treffen, dich auf die richtige Seite stellen ...«
»Auf die Seite, der ich heute einiges Ungemach bereitet habe?«
»Lächle nicht, deine Art, dämonisch zu lächeln, macht auf mich keinen Eindruck. Die paar erledigten Elfen? Artaud Terranova? Kleinigkeiten, bedeutungslos. Wir können darüber hinweg zur Tagesordnung übergehen.«
»Klar doch. Ich kenne deine Weltanschauung. Der Tod zählt nicht, nicht wahr? Zumal der von anderen?«
»Sei nicht banal. Es tut mir leid um Artaud, aber was soll man machen. Sagen wir ... wir haben Rechnungen beglichen. In letzter Zeit habe ich zweimal versucht, dich umzubringen. Emhyr war ungeduldig geworden, also habe ich dir Mörder auf den Hals hetzen lassen. Jedesmal habe ich es mit echtem Widerwillen getan. Ich hoffe nämlich immer noch, dass wir eines Tages auf ein und demselben Bild gemalt werden.«
»Lass diese Hoffnung fahren, Vilgefortz.«
»Steck das Schwert weg. Lass uns zusammen in den Tor Lara gehen. Wir werden das Kind des Älteren Blutes beruhigen, das dort sicherlich vor Angst vergeht. Und wieder herauskommen. Zusammen. Du wirst bei ihr sein. Du wirst zusehen, wie sich ihre Vorherbestimmung erfüllt. Und Kaiser Emhyr? Kaiser Emhyr wird bekommen, was er wollte. Denn ich habe vergessen, dir zu sagen, dass Codringher und Fenn zwar tot sind, ihr Werk und ihre Konzeption aber fortbestehen und sich gut entwickeln.«
»Du lügst. Geh fort von hier. Ehe ich auf dich spucke.«
»Ich habe wirklich keine Lust, dich zu töten. Ich töte ungern.«
»Wirklich? Und Lydia van Bredevoort?«
Der Zauberer verzog den Mund. »Sprich diesen Namen nicht aus, Hexer.«
Geralt fasste den Schwertgriff fester, lächelte spöttisch. »Warum musste Lydia sterben, Vilgefortz? Warum hast du ihr befohlen zu sterben? Sie sollte die Aufmerksamkeit von dir ablenken, nicht wahr? Sie sollte dir Zeit verschaffen, dich gegen das Dwimerit zu wappnen, ein telepathisches Signal an Rience zu senden? Die arme Lydia, die Malerin mit dem versehrten Gesicht. Alle wussten, dass sie eine Person ohne Bedeutung ist. Alle. Außer ihr selbst.«
»Schweig.«
»Du hast Lydia ermordet, Zauberer, hast sie benutzt. Und jetzt willst du Ciri benutzen? Mit meiner Hilfe? Nein. Du wirst Tor Lara nicht betreten.«
Der Zauberer wich einen Schritt zurück. Geralt spannte sich an, bereit zu Sprung und Hieb. Doch Vilgefortz hob nicht die Hand, streckte sie nur ein wenig seitlich aus. In ihr materialisierte sich plötzlich ein dicker, sechs Fuß langer Stab.
»Ich weiß«, sagte er, »was dich hindert, die Lage vernünftig einzuschätzen. Ich weiß, was es für dich schwierig und unmöglich macht, die Zukunft richtig vorherzusehen. Es ist dein Hochmut, Geralt. Ich werde dir den Hochmut austreiben. Ich werde ihn dir mit Hilfe dieses Knüppels austreiben.«
Der Hexer kniff die Augen zusammen, hob die Schwertklinge leicht an. »Ich zittere vor Ungeduld.«
Etliche Wochen später, nachdem er dank den Bemühungen der Dryaden und dem Wasser des Brokilons wieder genesen war, fragte sich Geralt, welchen Fehler er während des Kampfes gemacht hatte. Und er kam zu dem Schluss, dass er während des Kampfes keinen Fehler gemacht hatte. Den einzigen Fehler hatte er vor dem Kampf gemacht. Er hätte fliehen müssen, ehe der Kampf begann.
Der Zauberer war schnell, der Stab zuckte in seinen Händen wie ein Blitz. Umso erstaunter war Geralt, als Stock und Schwert bei der Parade mit metallischem Klang aneinanderstießen. Doch ihm blieb keine Zeit zum Staunen. Vilgefortz griff an, der Hexer musste in Volten und Pirouetten herumwirbeln. Er wagte nicht, mit dem Schwert zu parieren. Der verdammte Stab war von Eisen, noch dazu magisch.
Viermal befand er sich in der Position für einen Gegenangriff und Hieb. Viermal schlug er zu. An die Schläfe, an den Hals, unter die Achsel, zum Oberschenkel. Jeder dieser Schläge wäre tödlich gewesen. Doch jeder wurde pariert.
Kein Nichtmensch wäre imstande gewesen, so viele Hiebe zu parieren. Allmählich begann Geralt zu verstehen. Doch es war zu spät.
Den Hieb, den ihm der Zauberer versetzte, sah er nicht kommen. Der Schlag schleuderte ihn gegen die Wand. Er stieß sich mit dem Rücken ab, konnte nicht mehr wegspringen, eine Finte ausführen, der Schlag hatte ihm den Atem genommen. Er erhielt einen zweiten, gegen die Schulter, wurde wieder nach hinten geworfen, mit dem Hinterkopf gegen einen Wandpfeiler, gegen die vorstehende Brust einer Karyatide. Vilgefortz sprang geschickt heran, ließ den Stock wirbeln und rammte ihn ihm in den Magen, unter die Rippen. Kräftig. Geralt klappte zusammen und bekam eins seitlich auf den Kopf. Die Knie wurden ihm plötzlich weich, er stürzte zu Boden. Und das war das Ende des Kampfes. Im Prinzip.
Hilflos versuchte er sich mit dem Schwert zu decken. Die Klinge, zwischen Wand und Pfeiler eingeklemmt, brach unter dem Schlag mit einem gläsernen, vibrierenden Ächzen. Er deckte den Kopf mit dem linken Arm, der Stock fiel mit Wucht herab und brach ihm den Unterarm. Der Schmerz blendete ihn.
»Ich könnte dir das Gehirn durch die Ohren herausdrücken«, sagte Vilgefortz aus weiter Ferne. »Aber es soll ja eine Lektion sein. Du hast dich geirrt, Hexer. Du hast den Himmel mit den Sternen verwechselt, die sich nachts an der Oberfläche eines Teiches spiegeln. Aha, du übergibst dich? Gut. Gehirnerschütterung. Blut aus der Nase? Wunderbar. Also dann bis zum Wiedersehen. Irgendwann. Vielleicht.«
Er sah nichts mehr und hörte nichts. Er versank, ging in etwas Warmem unter. Er nahm an, Vilgefortz sei gegangen. Daher wunderte er sich, als ein Hieb des eisernen Stocks mit Wucht auf sein Bein traf und das Hüftgelenk zerschmetterte.
Weitere Schläge, falls es welche gab, nahm er nicht mehr wahr.
»Halte durch, Geralt, mach nicht schlapp«, wiederholte Triss Merigold unablässig. »Halte durch. Stirb nicht ... Bitte stirb nicht ...«
»Ciri ...«
»Sprich nicht. Gleich hole ich dich hier heraus. Halte durch ... Bei den Göttern, mir fehlt die Kraft ...«
»Yennefer ... Ich muss ...«
»Nichts musst du! Halte durch, mach nicht schlapp ... Werd nicht ohnmächtig ... Stirb nicht, bitte ...«
Sie schleifte ihn über den mit Leichen übersäten Boden. Er sah seine Brust und seinen Bauch, von dem Blut überströmt, das ihm aus der Nase floss. Er sah das Bein. Es war in einem sonderbaren Winkel verdreht und sah viel kürzer aus als das gesunde. Er fühlte keinen Schmerz. Er fühlte Kälte, der ganze Körper war kalt, starr und fremd. Er wollte sich erbrechen.
»Halte durch, Geralt. Von Aretusa her kommt Hilfe. Nicht mehr lange ...«
»Dijkstra ... Wenn Dijkstra mich erwischt ... dann bin ich erledigt ...«
Triss fluchte. Verzweifelt.
Sie zerrte ihn über eine Treppe. Das gebrochene Bein und der Arm sprangen auf den Stufen. Der Schmerz erwachte, fraß sich in die Eingeweide, in die Schläfen, strahlte bis in die Augen, in die Ohren aus, in den Scheitel. Er schrie nicht. Er wusste, dass ihm vom Schreien leichter werden würde, doch er schrie nicht. Er öffnete nur den Mund, auch das brachte Erleichterung.
Er hörte ein Brausen.
Oben auf der Treppe stand Tissaia de Vries. Ihr Haar war unordentlich, das Gesicht staubbedeckt. Sie hob beide Hände, ihre Handflächen begannen zu leuchten. Sie rief einen Spruch, und das auf ihren Fingern tanzende Feuer stürzte als blendende und vor Hitze brausende Kugel hinab. Der Hexer hörte von unten her das Krachen einstürzender Mauern und die wilden Schreie der Verbrannten.
»Tissaia, nein!«, rief Triss verzweifelt. »Tu das nicht!«
»Sie werden nicht hier hereinkommen«, sagte die Erzmeisterin, ohne den Kopf zu wenden. »Dies ist Garstang auf der Insel Thanedd. Niemand hat die königlichen Knechte hierher eingeladen, die die Befehle ihrer kurzsichtigen Herrscher ausführen!«
»Du bringst sie um!«
»Schweige, Triss Merigold! Der Anschlag auf die Einheit der Bruderschaft ist misslungen, über die Insel herrscht noch immer das Kapitel! Die Könige sollen die Finger von den Angelegenheiten des Kapitels lassen! Das ist unser Konflikt, und wir werden ihn selbst lösen! Wir werden unsere Angelegenheiten regeln und dann Schluss machen mit diesem idiotischen Krieg! Denn wir sind es, die Zauberer, die die Verantwortung für das Schicksal der Welt tragen!«
Aus ihren Händen schoss der nächste Kugelblitz hervor; das vielfache Echo der Explosion rollte zwischen den Säulen und steinernen Wänden.
»Fort!«, schrie sie abermals. »Ihr kommt hier nicht herein! Fort!«
Die Schreie von unten her verstummten. Geralt verstand, dass die Belagerer von der Treppe zurückgewichen waren, den Rückzug antraten. Tissaias Silhouette verschwamm vor seinen Augen. Das war keine Magie. Er war im Begriff, das Bewusstsein zu verlieren.
»Flieh von hier, Triss Merigold«, hörte er die Worte der Zauberin von ferne herandringen, wie durch eine Wand. »Philippa Eilhart ist schon geflohen, auf ihren Flügeln fortgeflogen. Du warst ihre Komplizin bei dieser widerwärtigen Verschwörung, ich muss dich bestrafen. Doch es hat schon genug Blut, Tod, Unglück gegeben! Hinfort! Geh nach Aretusa, zu deinen Spießgesellen! Teleportiere dich. Das Portal des Möwenturms existiert nicht mehr. Es ist zusammen mit dem Turm eingestürzt. Du kannst dich gefahrlos teleportieren. Wohin du willst. Meinetwegen zu deinem König Foltest, für den du die Bruderschaft verraten hast!«
»Ich werde Geralt nicht im Stich lassen ...«, stöhnte Triss. »Er darf den Redaniern nicht in die Hände fallen ... Er ist schwer verwundet ... hat innere Blutungen ... Und ich habe keine Kraft mehr! Ich habe keine Kraft, um den Teleport zu öffnen! Tissaia! Hilf mir bitte!«
Dunkelheit. Durchdringende Kälte. Von weither, durch die steinerne Wand hindurch, die Stimme von Tissaia de Vries: »Ich helfe dir.«